Pflugstein: Kriminalroman (German Edition)
Wagentür.
69
Viktoria wird aus Herkules nicht
klug.
Mit gemischten
Gefühlen kehrt sie in ihre Wohnung zurück. Der Mann hat sie während des Gesprächs
nicht ein einziges Mal angeschaut.
Plötzlich
wird ihr klar, an wen Herkules sie erinnert. Vor vielen Jahren hatte sie über einen
Mann mit einem ähnlichen Verhalten einen Artikel geschrieben. Damals waren Porträts
von Menschen ihre Spezialität.
Fridolin
Hänsler hieß der Mann. Er arbeitete im Zoo als Tierpfleger und war dafür bekannt,
dass er mit Raubtieren gut umgehen konnte. Er war ein kleiner unscheinbarer Mann
mit starren Gesichtszügen und ausdruckslosen Augen. Während des Interviews sah er
sie nicht ein einziges Mal an, und auf keine ihrer Fragen bekam sie eine direkte
Antwort.
Nach dem
Interview war sie ihm zu den Raubtierkäfigen gefolgt und hatte ihn bei seiner Arbeit
beobachtet. Dabei erinnerte sie sein Verhalten an das monotone Auf- und Ablaufen
der Tiger im Käfig oder an das dauernde Kopfschwenken der Elefanten im Zoo. In seinen
Bewegungen lag etwas Eintöniges. Gleichzeitig schien er auch Bewegungen auszuführen,
die ihr völlig funktionslos vorkamen.
Gerüchten
zufolge konnte er Raubkatzen hypnotisieren. Sie hatte mit eigenen Augen gesehen,
dass sich ihm die Tiger wie Hauskatzen vor die Füße legten. Interessant war, dass
er lediglich durch seine Hände mit ihnen kommunizierte.
Fridolin
war ein menschenscheuer Mann, der keine sozialen Kontakte pflegte. Im Zoo blieb
er bei den Kollegen ein Außenseiter. Einige Jahre später erfuhr sie, dass man ihn
entlassen hatte, weil er sich wiederholt den üblichen Verhaltensregeln im Umgang
mit Raubtieren widersetzt hatte. Kurz darauf erhängte er sich in einem der Käfige.
Besonders makaber an der Sache war, dass er dabei von einem Tiger zerfleischt wurde.
Auch mit Herkules lässt sich kein
Gespräch führen. Plötzlich wird ihr die Tragweite seines Besuchs bewusst. Sie schwebt
tatsächlich in Gefahr. Wie präsent die Gefahr ist, hat Herkules’ Verhalten gezeigt.
Er war gekommen, um sie einzuschüchtern. Eau de Toilette hin oder her. Er war es,
der sie beim Pflugstein überfallen hat, und kein anderer. Dessen ist sie sich sicher.
Bis jetzt
hat sie ihre Situation nicht als sehr bedrohlich empfunden. Doch nun steigt ihre
Besorgnis. Die Angst hat ihre Sinne geschärft.
Mit einem
mulmigen Gefühl im Bauch bringt sie Valentin via SMS auf den neusten Stand. Er schreibt
zurück, dass er sich melden würde.
Doch als er endlich zurückruft,
ist er in Eile. Sie schildert ihm in kurzen Zügen ihr Zusammentreffen mit Sascha
und Herkules. Am Schluss des Gesprächs will er wissen, ob sie den Ausflug mit den
beiden Frauen abgesagt hat. Sie verneint die Frage, worauf er sie erneut dazu drängt.
Als sie zögert, wirft er ihr vor, dass sie mit ihrer Sturheit die Ermittlungen behindere.
Sie erschrickt über die Heftigkeit seiner Reaktion.
Kaum hat
sie aufgehängt, kommt ihr in den Sinn, dass sie ihm nichts von Alex’ und Trix’ Reiseplänen
erzählt hat. Sie erwägt, ihn noch einmal anzurufen. Doch schließlich siegt ihr Groll,
den sie ihm gegenüber empfindet.
Der ganze
Tag war ein einziges Desaster und ihre Nerven liegen blank. Sie versteht nicht,
wie sie mit seinem Verhalten umgehen soll. Dieses Nebeneinander von Empfindsamkeit
und Kaltschnäuzigkeit kann sie nicht einordnen. Es verwirrt sie, dass er sie einerseits
in sein Leben mit einbezieht und andererseits davon ausschließt. Vergebens hat sie
darauf gehofft, dass er ihr vorschlagen würde, den Sonntag gemeinsam zu verbringen.
Grimmig
beschließt sie, den morgigen Ausflug nicht abzusagen, nicht unter diesen Umständen.
Abgesehen davon ist es ohnehin zu spät für eine Absage.
Aus ihrer
Müdigkeit wird Erschöpfung.
Für heute
hat sie vom männlichen Geschlecht die Nase gestrichen voll. Sie schaltet ihr Handy
aus und geht zu Bett.
Als es kurz
vor Mitternacht auf ihrem Festnetzanschluss klingelt, ist sie versucht, es läuten
zu lassen.
70
In Viktoria tönt es, als wimmere
ein Tier in Not.
Und dann
wieder rauscht und rattert es in ihrem Kopf. Ihr klappern die Zähne vor Kälte und
gleichzeitig ist ihr unerträglich heiß. Sie sieht sich eingeklemmt zwischen riesigen
blauschimmernden Eisblöcken, die sich bedrohlich auf sie zu und von ihr weg bewegen.
Sie spürt einen starken Druck auf ihrer Brust. Der Gedanke ›ich ersticke‹ taucht
in ihr auf. Sie ist wie gelähmt vor Angst.
Sie erwacht
mit einem Ruck, doch es ist ein böses
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