Pflugstein: Kriminalroman (German Edition)
nichts Außergewöhnliches
entdecken.
Wie ein
Blitz aus heiterem Himmel kommt ihm eine Idee. Er nimmt sich vor, dieser Eingebung
nachzugehen, sobald er Viktoria gefunden hat.
Im Korridor
fällt sein Blick jedoch auf einen offenen Umschlag. Er zieht den Brief heraus und
inspiziert ihn. Überrascht stellt er fest, dass es sich dabei um eine Reisebestätigung
handelt. Er betrachtet die Auflistung genauer und fotografiert sie mit seinem Handy.
Als er das Abflugdatum sieht, wählt er umgehend Polas Nummer und bespricht mit ihm
die notwendigen Vorkehrungen. Gleichzeitig bittet er seinen Kollegen, nochmals die
Nachbarin zu befragen, die in der Mordnacht zu später Stunde Mannhart um Eier gebeten
hat.
75
Im Hafen von Meilen nimmt Möller
die Fähre nach Horgen. Doch diesmal ist er zu erschöpft, um seeabwärts die beeindruckende
Sicht auf Zürich und seeaufwärts auf die Glarner Alpen zu genießen. Das gleichmäßige
Rattern des Schiffsmotors lässt ihn einnicken.
Als die
Fähre in Horgen mit einem Ruck zum Stehen kommt, ist er wieder hellwach.
Angelina Roffler bittet ihn höflich
herein und serviert ihm Jasmintee und Kekse. Überall liegen stapelweise Kondolenzbriefe
herum. Die Chinesin erzählt ihm, dass ihr Mann seinen letzten Willen testamentarisch
festgehalten hat. Er habe sich nämlich außer einer Verabschiedung mit allem Drum
und Dran und einem anschließenden opulenten Leichenmahl eine Flugbestattung gewünscht.
So seien Jack, Fredi und sie gestern seinem letzten Willen nachgekommen.
Er zeigt
sich wenig überrascht. Es ist ihm bekannt, dass zurzeit Flugbestattungen der letzte
Schrei sind, zumindest für jene, die sich diese Extravaganz leisten können. Nach
dem Motto gone with the wind wird die Asche, sobald die erforderliche Höhe
erreicht ist, durch eine kleine Fensterluke in den Wind gestreut. Bereits ereignen
sich über fünf Prozent aller Bestattungen draußen in der Natur, Tendenz steigend.
Weiter vertraut
ihm Angelina Roffler an, dass ihr Mann sogar eine Liste der Trauergäste hinterlassen
hat. Aber so sei Joe eben gewesen. Er habe nichts dem Zufall überlassen. Nun sei
der Trubel aber zum Glück vorbei. Jetzt müsse sie nur noch die Kondolenzschreiben
beantworten. Er kann in ihrem Gesicht keine Trauer entdecken. Da er aber inzwischen
weiß, dass Chinesen ihre Emotionen nicht öffentlich zur Schau stellen, schenkt er
diesem Umstand wenig Beachtung.
Als er von
ihr wissen will, wann sie Viktoria das letzte Mal gesehen hat, erwähnt sie den gestrigen
Ausflug zum Pflugstein.
Am Ende
des Gesprächs bittet er sie, Herkules zu rufen, doch Angelina Roffler gibt an, dass
er ausgegangen sei. Wohin, wisse sie leider nicht. Sie verspricht, bei seiner Rückkehr
sofort Bescheid zu geben.
76
Wieder zurück in seinem Auto bekommt
Möller einen Anruf des Sachbearbeiters, dem er den Auftrag gegeben hat, Herkules
zu überwachen. Dieser erklärt, dass er Roffler im dichten Verkehr aus den Augen
verloren habe. In Zürich sei zurzeit die Hölle los, weil das schöne Wetter den ganzen
Kanton in die Stadt gelockt habe.
Möller lässt
seine aufgestaute Unruhe an ihm aus, obwohl er nur zu gut weiß, dass es in den engen
Straßen der Stadt schier unmöglich ist, eine Verfolgung aufzunehmen, ohne dabei
die anderen Verkehrsteilnehmer und Passanten zu gefährden.
Als Nächstes beschließt er, Rofflers
Cousin Fredi Roffler einen Besuch abzustatten. Während er nach Wädenswil fährt,
trommelt er nervös mit den Fingern auf das Lenkrad.
Der übergewichtige
Arzt sieht in seinem unförmigen, grauen Trainingsanzug schäbig aus. Er gibt an,
Bereitschaftsdienst zu haben und deshalb den ganzen Tag zu Hause geblieben zu sein.
Er zeigt
ihm Viktorias Foto, doch er beteuert, diese Frau noch nie gesehen zu haben. Als
neuen Mann an Angelina Rofflers Seite kann er sich den Arzt mit dem Doppelkinn und
dem aufgedunsenen Gesicht beim besten Willen nicht vorstellen. Aber vielleicht genügt
ihr die Tatsache, dass er Chefarzt einer lukrativen Privatklinik ist.
77
Ohne Zeit zu verlieren fährt Möller
nach Zürich zurück und parkiert seinen Wagen in der Nähe der Kripo-Leitstelle. Dann
fährt er mit dem Tram ins Seefeld.
Engel bittet ihn nur widerwillig
herein. Möller lässt ihn seine Gereiztheit spüren. Dass Engel beim gestrigen Verhör
zusammengebrochen ist und geweint hat, daran will er jetzt nicht denken. Ein innerer
Impuls drängt ihn, Viktoria zu finden und zwar schnell.
»Wo ist
sie?«, kommt er gleich zur
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