Pforten der Nacht
Kopf, weil ich keinen anderen Ausweg wusste. Damals fand ich es nicht einmal schlecht. Inzwischen aber habe ich gelernt, dass es eine Sünde ist. Nicht nur dem anderen gegenüber, sondern auch sich selber …« Sie hielt inne, als habe sie schon zu viel verraten.
»Und werdet Ihr es trotzdem ein zweites Mal tun?« Er klang besorgt.
»Ich weiß nicht«, sagte Anna müde. »Ich fürchte nur, mir bleibt nicht mehr viel Zeit, um mich zu entscheiden.«
Der Gedanke an die Sündigkeit der Menschheit brannte in seinem Fleisch. Der an seine eigene nicht minder. Seit jener Nacht mit Anna und Esra ließ er ihn nicht mehr los. Und weder Beten noch Buße oder strenges Fasten vermochten ihm Linderung zu verschaffen. Es schien ihm klar, wozu er aufgefordert war. Er wusste nur noch nicht, wie er es anstellen sollte.
»Ein Opfer«, murmelte er mit aufgesprungenen Lippen. »Gott, der Allmächtige, verlangt ein Opfer!«
Die meisten der anderen Mönche mieden ihn inzwischen ängstlich. Dafür scharte sich das Häuflein der Jünger immer enger um ihn. Sie sorgten dafür, dass er das Trinken nicht vergaß, dass er wenigstens ab und an etwas Nahrung zu sich nahm, dass er sich wenige Stunden Ruhe gönnte. Zwölf waren es bereits, die sich diesem Dienst verpflichtet fühlten. Ein Dutzend Männer, wie einst um Jesus Christus.
»Ein Heiliger!« Ihre Stimmen senkten sich, sobald sie von ihm sprachen. »Vom Allmächtigen direkt erwählt.«
Vorzugsweise hielt sich Johannes van der Hülst inzwischen im Kreuzgang des Minoritenklosters auf. Die Krypta, sein früherer Lieblingsort, erinnerte ihn zu sehr an Bruno de Berck und die Schwäche des Fleisches, der er selber erneut erlegen war. Er haderte nicht länger mit jenen Stunden am nächtlichen Fluss. Inzwischen wusste er, sie waren nichts anderes gewesen als eine schwere Prüfung, die ihn dem geliebten Herrn umso näher gebracht hatte.
»Es ist das Kreuz.« Die anderen traten ehrfurchtsvoll näher, um keines seiner Worte zu versäumen. »Das erhabenste Sinnbild von Kraft und Herrlichkeit. Ohne Christus freilich wäre selbst das Kreuz nichts. Selbst das All ist erschaffen in der Bewegung auf Ihn hin.« Alle nickten zustimmend. Mittlerweile gab es unter ihnen einen jungen Mönch mit Namen Justin, der sich redlich mühte, alles aufzuzeichnen, was Johannes van der Hülst von sich gab. »Eine Gotteskraft aber geht vom Kreuze aus, weil es uns den Sieg Jesu über den Tod kündet. Er ist der Weg, der zu den Lichtern des Vaters führt.«
Respektvolles Schweigen, und nun verstummte auch Johannes für viele Stunden. Er zog seine Kutte aus, legte sich nackt auf den steinernen Boden und ließ sich das Evangelium der Passion vorlesen, wie es der Überlieferung nach auch der heilige Franziskus in seinen letzten Tagen immer wieder getan hatte. Als die Abenddämmerung kam, stand er mühsam auf.
»Was geht hier vor?« Bruno de Berck, der einige Zeit auf Reisen gewesen war, traute seinen Augen nicht, als er ihn bloß und frierend erblickte. »Schämst du dich nicht?«, herrschte er Johannes an. »Hast du vergessen, wo du dich befindest?«
»Nein, ich schäme mich nur vor Gott«, erwiderte sein früherer Schüler ruhig. »Ich habe die Ketten zerrissen, die mich an die Erde gebunden haben. Sogar von dir bin ich nun ganz frei. Denn du warst nicht da, Bruno, als ich am dringendsten nach dir verlangt habe. Als ich nicht mehr weiter wusste, ohne deinen Rat, deine Hilfe. Damals habe ich dir deswegen gegrollt. Jetzt aber danke ich dir dafür. Denn nun kenne ich meinen Weg. Und niemandem wird es gelingen, mich davon abzubringen.«
»Zieh dich sofort an!«
Johannes gehorchte, lächelte dabei jedoch unbestimmt. Die anderen Mönche waren unschlüssig ein Stück zurückgewichen.
»Was treibt ihr alle hier? Wieso seid ihr zu dieser Stunde nicht in der Kirche beim Gottesdienst? Und was vor allem soll dieses Possenspiel?« De Bercks ungehaltene Fragen prasselten wie ein Pfeilhagel auf die Brüder herab.
»Täglich wird Christus für uns ans Kreuz geschlagen.« Johannes’ Stimme war brüchig vor Schwäche. »Wir werden für diese Welt gekreuzigt, und Christus wird in uns gekreuzigt. Glückselig, in wessen Herz Christus täglich aufersteht, wenn er für seine Sünden Buße tut. Glücklich, wer täglich vom Ölberg hinaufsteigt zum Himmelreich, wo die üppigen Ölbäume des Herrn wachsen, wo das Licht Christi aufgeht, wo die Ölgärten des Herrn liegen.«
»Oft hören wir unsere eigene Stimme, wenn wir beten«,
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