Pforten der Nacht
»das Fest der Geburt Christi.« Sie erhob ihre Stimme. »Ich bin der Gott, der vom Himmel auf die Erde herabsteigt, um aus der Erde einen Himmel zu machen. Ich bin die Liebe.« Sie fuhr ruhiger fort, leise, nachdenklich, wie zu sich selbst. »So spricht der Heiland selbst. Und daran sollten wir uns ein Beispiel nehmen. Daher muss, wollen wir dem Menschensohn nachfolgen, unser Handeln so menschlich sein, wie es vorgibt zu sein. Denn die Wahrheit unseres Lebens liegt nicht in dem, was wir nach draußen posaunen. Sondern einzig und allein in unserem Tun.«
»Keiner hätte das schöner ausdrücken können«, sagte Greda ergriffen und wieder vollständig mit der Meisterin versöhnt, und die anderen nickten nicht minder beifällig. »Nicht einmal unser verehrter Beichtvater de Berck!«
Er würde nicht tun, was er von ihm verlangte - niemals! Und ebenso wenig vergessen, was er ihm zugefügt hatte. So lange er lebte. Irgendwann einmal würde er dafür bittere Rache an ihm nehmen, das wusste er gewiss. All die süßen Vorstellungen von Gnade, Vergebung und Verzeihen waren wie weggezaubert. Der heilige Franziskus hatte sich vor seinem Vater freiwillig gedemütigt, Johannes aber hätte alles darum gegeben, um die letzte halbe Stunde ungeschehen zu machen.
Noch jetzt brannte sein Hinterteil von den Stockhieben, die ihm Jan van der Hülst versetzt hatte, so unbeteiligt und gleichmäßig, als verrichte er eine seiner üblichen Arbeiten im Kontor. Sein Vater besaß noch immer viel Kraft, auch wenn er nicht besonders hoch gewachsen war und Johannes inzwischen seine Größe beinahe erreicht hatte. Den eigenen Sohn wie einen tollwütigen Hund zu züchtigen, nur weil er es gewagt hatte, gegen die väterlichen Zukunftspläne zu rebellieren!
Voller Empörung schlug Johannes mit der Handkante auf die geschnitzte Truhe, hart, mehrmals hintereinander, aber er spürte den Schmerz nicht. Wenigstens hatte er vor ihm nicht geweint. Diesen Triumph hatte er ihm nicht gegönnt, ihm, der Menschen aus Fleisch und Blut kaum mit mehr Anteilnahme manipulierte als seine kostbaren Schachfiguren aus Elfenbein und Ebenholz auf dem schwarzweißen Brett, wo er so gut wie niemals einem Gegner unterlag. Jetzt aber, in der Sicherheit seiner Kammer, flossen die Tränen doch, helle Tränen voller Zorn und Wut. Er würde nicht länger versuchen, es diesem selbstherrlichen Vater recht zu machen, der ja doch niemals ein gutes Wort für ihn fand, egal, was auch immer er tat, das schwor er sich!
Dabei hatte es eine ganze Zeit so ausgesehen, als könne er dem ungeliebten Regime auf bequeme Art und Weise entkommen. Schon vor einigen Jahren war ein längerer Aufenthalt im Haushalt der Familie Blanckenberg vereinbart gewesen, ein Geschlecht von Fernhändlern wie sein eigenes, reicher freilich und nobler dazu. Es führte seine Abstammung direkt auf eine der sagenhaften vierzig römischen Senatorenfamilien zurück, die Kaiser Trajan zusammen mit dem Christentum nach Köln gebracht hatte. Seine Umsiedlung in das prachtvolle Patrizierhaus an der Hohen Straße schien nur noch eine Frage von Monaten. Dort sollte er gemeinsam mit den Söhnen Arno, Philipp und Richard, alle drei ungefähr in seinem Alter, für den Kaufmannsstand weiter ausgebildet werden. In der ganzen Stadt liefen seit Langem neidvolle Gerüchte um über die kostbaren Möbel, die Kandelaber, Teppiche, Treppenaufgänge und Wandbehänge, und man wurde nicht müde, haarsträubende Geschichten über den kleinwüchsigen italienischen Meister zu erzählen, den der Hausherr zur Ausmalung des Festsaals eigens für zwei Jahre in sein Haus geholt hatte.
Plötzlich jedoch, von einem Tag auf den anderen, wurde kein Wort mehr darüber verloren. Jan van der Hülst schwieg sich hartnäckig aus, und selbst aus Bela war nichts Brauchbares herauszubekommen. Es dauerte eine Weile, bis Johannes den Grund dafür fand. Dann allerdings klatschte bereits die ganze Stadt darüber. Sein Vater und Gero von Blanckenberg, hieß es, seien im Schöffenkolleg wegen eines Mordfalls, bei dessen Urteilsfindung beide keine Einigung finden konnten, böse aneinandergeraten. Ein Zwist, der, wie der sonntägliche Kirchgang zeigte, bei dem man sich allenfalls kühl grüßte, bis heute nur oberflächlich gekittet, keinesfalls aber bereinigt worden war.
Es war nicht das dreistöckige Gebäude mit den Erkern und den prächtigen Laubengängen, das nicht nur zahlreiche entfernte Verwandte, sondern auch Scharen von Dienstboten beherbergte, nach
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