Pforten der Nacht
dem Johannes sich noch heute sehnte. Ebenso wenig machte er sich aus weichen Betten und üppigen Mahlzeiten, und zur Schau gestellten Reichtum wie prunkvolle Gewänder oder Goldgeschmeide verachtete er. Die Freundlichkeit war es, die er vermisste, die liebevolle Offenheit, die von dem Hausherrn und seiner sanften Frau Marianne ausgegangen war, eine Wärme im Umgang untereinander und eine natürliche Herzlichkeit, die er zu Hause niemals erlebt hatte.
Zu spät. Für immer vorbei. In seinem Herzen wurde es dunkel und kalt, wenn er nur daran dachte. Wer würde auch den Sohn eines Mannes bei sich aufnehmen, der sich keinen Deut um Moral und Anstand scherte? Der ganz öffentlich seinen Hurereien nachging und billigend in Kauf nahm, dass seine Frau daran zerbrach? Manchmal allerdings konnte Johannes seine Mutter selber kaum noch ertragen, geschweige denn jene merkwürdige Mischung aus Hass und Ergebenheit, die ihre Züge verzerrte und sie in der Gegenwart ihres Mannes geifernd und bösartig werden ließ.
Wir werden alle nicht mit ihm fertig, dachte er bitter. Keiner von uns. Weder ich. Noch Rutger. Und Mutter schon gar nicht.
Die Tür flog auf. Sein älterer Bruder stand auf der Schwelle. Ertappt fuhr Johannes auf, froh darüber, dass das einzige Fenster der Kammer am anderen Ende lag und nur diesiges Winterlicht hereinließ.
»Kannst du nicht anklopfen?«, fragte er giftig. »In diesem Haus ist man niemals ungestört!«
»Du machst einen entscheidenden Fehler, Kleiner«, sagte Rutger und kam langsam herein. »Wenn man es recht betrachtet, machst du nichts als Fehler. Eigentlich seltsam, wenn man bedenkt, mit welch profunden Weisheiten du deinen hübschen Kopf schon nächtelang malträtiert hast.«
»Wenn er mich noch einmal anrührt, bringe ich ihn um!« Die Resignation von eben war wie weggewischt, die Wut von vorhin zurück, klar, kalt und gefährlich. »Wen glaubt er eigentlich vor sich zu haben - einen Sklaven?«
»Gemach, gemach, du Heißsporn! Wieso musst du Vater auch dauernd provozieren? Du weißt doch selbst am besten, dass man ihn mit frechen Widerworten nur allzu schnell in Rage bringt. Wenn man sich dagegen darauf einstellt, wie er zu nehmen ist, kommt man ohne große Schwierigkeiten mit ihm aus. Nimm dir ein Beispiel an mir!«
Er ließ sich neben ihm auf die Bettstatt fallen, die unter seinem Gewicht ächzte. Ein säuerlicher Geruch nach Bier und Zwiebeln strömte von ihm aus, und Johannes zuckte angeekelt zurück.
»Das sagst du nur, weil du beizeiten gelernt hast, dich zu ducken«, erwiderte er scharf. »Wer schnappt schon nach der Hand, die ihn mit den besten Brocken füttert? Die Hundehütte, die er dir verpasst hat, mag auf Dauer vielleicht etwas eng und dunkel sein, aber sie schützt immerhin vor Kälte und Gefahren, nicht wahr? Und außerdem sind zwei reichliche Mahlzeiten pro Tag gesichert. Worüber sollte man sich da noch weiter unnütze Gedanken machen?«
Rutger war gut acht Jahre älter als Johannes und bereits mit erheblicher Leibesfülle gesegnet. Seine Schenkel in den eng anliegenden Beinlingen, wie sie die herrschende Mode vorschrieb, strotzten vor Fett und Muskeln. Über dem Gürtel wölbte sich ein beachtlicher Bauch, den auch ein raffiniert geschneidertes Wams aus grünem Samt nicht kaschieren konnte, das gut zu seinen feinen blonden Haaren passte. In der Regel kam der junge Kaufmann mit seiner imposanten Erscheinung und der hohen Stirn, die schon licht wurde, gut zurecht. Manchmal allerdings konnte er auch empfindlich reagieren, wenn man ihn damit aufzog. Heute aber schien er gelassen. Das letzte Jahr, das er in Alicante, Murcia und auf den Balearen mit dem Einkauf von Gewürzen und dem Handel erlesener Brokate für das väterliche Unternehmen verbracht hatte, schien seinem Temperament bestens bekommen zu sein.
»Ich mache mir ernsthaft Sorgen um dich«, sagte er gutmütig. »Weshalb willst nicht zur Vernunft kommen und aufhören, dich gegen etwas zu stemmen, was ohnehin unausweichlich ist? Schau, Johannes, wir sind doch alle nur Glieder einer langen Kette. Dein Urgroßvater war Kaufmann, dein Großvater war es, ebenso wie dein Vater, und ich bin es gleichfalls geworden. Wir haben Auskommen und Besitz, gehören zur Richerzeche und bekleiden wichtige Sitze in Rat und Schöffenkolleg. Jetzt bist du an der Reihe. Füge dich. Nimm deinen Verstand zusammen und bezwinge dein heißes Herz. Zeig endlich die Umsicht und Besonnenheit, die man von dir erwartet. Schließlich bist du schon
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