Pforten der Nacht
Sitzung über den Fastabend war angesagt, weil trunkene Horden beim nächtlichen Heischegang im vergangenen Jahr erheblichen Schaden in der Stadt angerichtet hatten. Einige waren in das Judenviertel eingedrungen, hatten dort randaliert und die Buden zweier Pfandleiher abgefackelt, andere anzügliche Strohpuppen auf dem Alten Markt postiert, die den Rat und das Schöffenkolleg darstellen sollten, und sie in Brand gesteckt. Trotz der Androhung drakonischer Strafen waren auch dieses Jahr ähnliche Ausschreitungen nicht auszuschließen.
Und wenn schon - sollten die anderen Räte doch ruhig ihre Beschlüsse ohne ihn fassen! Wenn die grölenden Gesellen durch die Stadt tobten, würde er bei seiner Liebsten liegen, Fischpastete und Wildschweinschinken essen und sich an dem süffigen Rheinwein laben, den er von einem Winzer ganz in der Nähe bezog. Und anschließend …
Sein Mund verzog sich schwelgerisch. Er war schon jetzt gespannt, wie süß sie die Überraschung belohnen würde, die er für sie vorbereitet hatte. Ja, auch sie würden den Fastabend feiern - auf ganz eigene Weise! Was kümmerte ihn angesichts solch lustvoller Fantasien, dass er seinen Eid darauf geleistet hatte, stets zu den Versammlungen zu erscheinen? Dass ihm ein saftiges Bußgeld drohte, falls er für sein Fernbleiben nicht triftige Gründe anführen konnte? Und was schließlich gingen ihn die Maskenträger überhaupt an, die am Fastabend womöglich wieder über die Stränge schlagen würden, um ihrer unterdrückten Wut wenigstens in einer wilden Nacht Ausdruck zu verleihen?
Seitdem Jan van der Hülst denken konnte, hatte er immer geglaubt, innerer Friede sei die Abwesenheit von Furcht, Schmerz oder Trauer. Er hatte sich abermals getäuscht. Innerer Friede war, das wusste er erst jetzt, eine Erscheinung ganz eigener Gestalt, stärker und umfassender als andere Empfindungen. Voller Zärtlichkeit glitten seine Augen über die Schlafende. Das war also der Himmel - die Heimkehr aus einem allzu langen Exil! Hier war sein Leben. Seine Hoffnung. Und seine Zukunft. All das, was er so lange vergeblich ersehnt hatte.
Er ließ sie nicht los. Keinen Augenblick. Ihre Fessel, die er immer wieder mit versonnenem Lächeln streichelte, erschien ihm so warm und verletzlich wie das Glück.
Natürlich war er schon wieder bei ihr. Bei der welschen Hure, die seine Gedanken vergiftete, sein Ansehen ruiniert hatte und ihn noch großspuriger machte, als er ohnehin war! Johannes van der Hülst erkannte mittlerweile die Absicht seines Vaters, sich in jenes Haus am Heumarkt zu begeben und dort schamlos Unzucht zu treiben, schon an der Art, wie er sich kleidete. Dann trug er nicht den Trappert, ein faltenreiches Obergewand, wie es seinem Stand und Alter entsprochen hätte, sondern zog dieses Laffenzeug an, das nur zu jungen Männern passte, hautenge Beinlinge, kurze, grelle Schecken mit Bändern und Schnüren, und den wieselbesetzten Mantel aus burgunderrotem Samt, der seine Schultern breiter erscheinen ließ. Dann wurden seine Schritte ausgreifender, die Stimme tiefer, die Haltung stolzer und aufrechter.
Wie ein angejahrter Pfau, dachte Johannes verächtlich, während er schon viel zu lange vor dem zweistöckigen Gebäude mit dem protzigen Erker wartete, ein Pfau, der seine räudigen Federn putzt und eifrig das Rad schlägt, bevor er endlich die junge Henne bespringen darf. Ein wahrhaft kostspieliges Bespringen, das bald noch aufwändiger werden würde!
Ein Fenster wurde geöffnet und wieder geschlossen, zu schnell, als dass er etwas hätte sehen können. Johannes suchte nach einer bequemeren Haltung. Eigentlich war sein Bedarf an Entdeckungen für heute gesättigt. Seit diesem Morgen wusste er, was sein Vater plante - einen Neubau für dieses Weib, das gründlicher als jede andere vor ihr dafür gesorgt hatte, dass sein Verstand endgültig in der Hose saß. Im Kontor war Rutger nicht schnell genug gewesen, um die Papiere wegzuräumen, und Johannes hatte ausreichend Gelegenheit gehabt, die Pläne des Baumeisters zu studieren. Ein dreistöckiges Gebäude mit Hof, Balkonen und Laubengang, mit geschnitztem Treppenlauf, Kassettendecken und einem eigenen Brunnen, schöner und prächtiger beinahe als der Palast des Erzbischofs! Seitdem war ihm klar, dass Jan van der Hülst künftig erst recht einzig und allein das zu tun gedachte, wonach ihn gelüstete. Denn das Grundstück, auf dem jetzt noch eine baufällige Hütte stand, der schon bald die Spitzhacken zu Leibe rücken
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