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Phantasmen (German Edition)

Phantasmen (German Edition)

Titel: Phantasmen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Probanden mochte blind sein und alle hatten die Augen geschlossen, und dennoch wurde ihnen etwas vorgeführt.
    »Salazar«, sagte Haven, drückte eine Tastenkombination und zauberte ein neues Bild auf die Monitorwand.
    Zwei riesige Augen erschienen, quer über die gesamte Breite der Überwachungszentrale. Die Augenpartie des Hypnotiseurs, dunkel und schattig unter buschigen schwarzen Brauen. Ich hatte diesen Blick dutzendfach auf den Plakaten und Fotos im blauen Haus gesehen. Hier handelte es sich um Filmaufnahmen, denn das Gesicht um das Augenpaar bewegte sich.
    »Er spricht, oder?«, fragte ich.
    Haven nickte und schob einen Regler nach oben. Aus unsichtbaren Lautsprechern drang eine tiefe Stimme, die in monotonem Rhythmus Spanisch sprach, immer wieder dieselben Worte.
    »Was sagt er?«
    »Ich weiß es nicht. Aber es gibt unzählige dieser Film- und Tonschnipsel, die nach irgendeinem Muster als Endlosschleife wiederholt werden. Es scheint auch keine Rolle zu spielen, was er sagt, sondern nur, wie er es sagt. Die meisten der Probanden verstehen kein Spanisch und die Hälfte ist blind und könnte seine Augen nicht mal sehen, wenn ihre eigenen geöffnet wären. Aber auf irgendeine Weise gehört das alles zu der großen Show, die hier seit Jahren für sie veranstaltet wird. Die Technik selbst stammt von Salazar, und Whiteheads Leute haben versucht, sie weiterzuentwickeln. Wir sollten uns das besser nicht allzu lange anhören.«
    Er zog den Regler zurück, und sogleich verstummte die Stimme Salazars. Seine Augen hingen noch einen Moment länger vor uns im Raum wie Fenster zu einem Ort, den ich niemals betreten wollte.
    Noch einmal drückte Haven auf Knöpfe und das Bild veränderte sich erneut. Die Kamera sprang ein Stück zurück, war jetzt einige Meter von der Wand entfernt, die von Salazars Augen beherrscht wurde. Davor schwang etwas in weitem Bogen von links nach rechts und wieder zurück – ein gigantisches Metronom. Es war nur als Silhouette zu sehen, ein mannshoher schwarzer Zeiger vor dem stechenden Blick des Hypnotiseurs. Mir wurde auf einen Schlag eiskalt.
    »Schalten Sie das weg!«, forderte ich Haven auf. »Jetzt gleich … bitte!«
    Er sah verwundert über die Schulter zu mir herüber, aber dann tauchte er die Monitorwand mit einem Knopfdruck in Schwärze.
    »Danke«, sagte ich mit bebender Stimme. »Es ist nur …« Dann gingen mir die Worte aus. Was, wenn ich die Geister und das Ende der Menschheit nur in meiner Hypnose erlebte? Vielleicht saß ich noch immer im Behandlungszimmer meines Therapeuten und starrte auf den Zeiger des Metronoms.
    »Rain, was ist los?« Emmas Stimme holte mich zurück in die Wirklichkeit. In eine Wirklichkeit? Aber das hier war die einzige Realität, die zählte. Ihre und meine. Die Geister, die Löwen, Salazar und Haven.
    Tyler und Whitehead.
    Plötzlich waren sie da, unmittelbar vor mir auf der Monitorwand. Der Colonel hatte abermals das Bild gewechselt, und nun befand sich die Kamera weit abseits der Probanden. Die Perspektive war noch extremer, die Verzerrung fast grotesk. Trotzdem erkannte ich beide Männer sofort.
    Tyler saß links im Bild, unweit der Stahlschleuse, und war mit einer Handschelle an ein Bodengitter gefesselt, vielleicht ein Abluftschacht. Das wabernde Licht, das von der Wand mit Salazars Augen herüberschien, reichte aus, um sein Gesicht zu erhellen – und die ungeheure Wut darin.
    Die Probanden befanden sich am entgegengesetzten Ende – ganz rechts im Bild –, während in der Mitte ein Mann auf und ab ging, den ich nur von Fotos kannte.
    Timothy Whitehead war groß und schlank, mit einer eckigen Brille. Er hatte graues Haar, schulterlang wie Tyler, jedoch sehr dünn, so dass es wie Spinnweben wehte. Er trug einen grauen Anzug, verschmutzt und derangiert, und hatte die oberen Knöpfe seines Hemdes geöffnet. Seine Bewegungen wirkten fahrig und überhastet wie bei jemandem, der seit vielen Stunden ohne Schlaf auf den Beinen war.
    Ich erinnerte mich an das, was Haven über die ermordeten Mitarbeiter gesagt hatte, und mir wurde klar, dass die Flecken auf Whiteheads Anzug Blut waren. Er gestikulierte und redete, aber der Colonel hatte keinen Ton zugeschaltet. Auf einem Metalltisch, den Whitehead immer wieder beim Aufundabgehen passierte, lag griffbereit eine Pistole.
    Falls die Worte des Predigers Tyler galten, so quittierte der sie nur mit Zorn und Verachtung. Tyler hatte sein Ziel erreicht, aber er war so hilflos wie noch vor wenigen Tagen, als ein

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