Phantasmen (German Edition)
die nichts miteinander zu tun hatten.
Tyler ließ nicht locker. »Warum Menschen mit Nahtoderfahrungen? Und weshalb gerade diese zwölf?«
Sie warf einen sehnsüchtigen Blick zum Aufzugschacht draußen im Treppenhaus. »Begreift ihr es denn nicht? Es ging um die Methode, zu sehen, was sie sehen!«
Wir starrten sie verständnislos an, selbst Emma fiel keine altkluge Bemerkung mehr ein.
»Und ihr werdet mich zu Esteban gehen lassen, wenn ich euch alles erzähle?«
Tyler nickte. »Sobald Sie uns die Wahrheit sagen.«
Teresa Salazar rieb sich mit beiden Händen über die kahle Kopfhaut. Sie schwitzte stark, obwohl es im Raum nicht allzu warm war.
»Vor Jahren habe ich eine Methode entwickelt, mit der sich die Impressionen menschlicher Netzhäute ablesen lassen. Die Retina wandelt das Licht in Impulse um, die unser Gehirn wiederum in Bilder umsetzt. Diese Impulse habe ich auf Höhe des Sehnervs ausgelesen und mit Hilfe eines speziellen Programms in optische Darstellungen gewandelt.«
»Sie haben es gefilmt ?«, flüsterte Emma. »Das, was Flavie und die anderen gesehen haben?«
»So einfach ist es nicht, aber am Ende läuft es auf etwas Ähnliches hinaus. Die Probanden hatten alle mehrfache Nahtoderfahrungen hinter sich. Ihre Widerstandskraft gegen den Tod war ganz außerordentlich. Sie waren nicht mehr lebendig, aber auch nicht unwiederbringlich gestorben – so etwas lässt sich nicht mit Hilfe von Medikamenten herbeiführen.«
»Sie meinen, Ihr Mann –«, begann ich.
»Ihr habt die Plakate gesehen und ihn für einen Scharlatan gehalten, nicht wahr? Einen Illusionisten und Hochstapler. Aber die Wahrheit ist: Esteban war der größte Hypnotiseur, der je vor Publikum aufgetreten ist. Er konnte Menschen dazu bringen, alles zu tun. Alles zu glauben. Und er konnte sie in einen todesähnlichen Zustand versetzen – sie sterben lassen bis zu einem gewissen Punkt. Er hatte die Macht, sie dort festzuhalten oder zurückzuholen, ganz wie es ihm beliebte. Jahrzehntelang hat er seine Talente auf der Bühne verschwendet, bis er … nun, bis er eines Tages die Aufmerksamkeit gewisser Leute erregt hat.«
»Was für Leute waren das?«, fragte Tyler.
»Menschen, die ihm ein großzügiges finanzielles Angebot unterbreitet haben. Sie brachten ihn mit Forschern wie mir zusammen, Wissenschaftlern, denen ein Budget zur Verfügung stand, von dem andere nur träumen konnten. Esteban hat die Nahtoderfahrungen der Probanden künstlich herbeigeführt und über einen langen Zeitraum aufrechterhalten. Und wir haben die Bilder aufgezeichnet, die sie währenddessen gesehen haben.«
Ich trat an Tylers Seite und legte eine Hand auf seine Schulter, als er auffahren wollte. »Sie haben diesen Tunnel, von dem immer alle sprechen, diesen Tunnel ins Licht … den haben sie gefilmt? Mit Hilfe menschlicher Augen?«
Sie nickte, aber es wirkte gönnerhaft, als hätte ich kaum einen Bruchteil von dem verstanden, um das es hier wirklich ging.
Emma trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. »Aber Menschen mit Nahtoderfahrungen sehen gar nichts«, widersprach sie nachdenklich. »Sie glauben nur, dass sie etwas sehen. Ihre Netzhäute dürften überhaupt nichts wahrnehmen.«
Die alte Frau hob fast anerkennend eine Augenbraue, weil zumindest eine von uns in der Lage war, ihren Ausführungen weit genug zu folgen, um sie in Frage zu stellen.
»Das wäre richtig«, sagte sie, »wenn die Erlebnisse dieser Menschen nur eingebildet wären, so wie man es ihnen oft unterstellt. Aber ein Teil von ihnen geht wirklich dorthin, und was er sieht, das sieht auch ihre biologische Hülle. Ihr Gehirn bleibt ebenso zurück wie ihre Augen, und dennoch sind beide in der Lage, die Erfahrungen zu verarbeiten und sich später daran zu erinnern. Sie setzen alle ihre Sinnesorgane dabei ein – auch ihre Netzhäute.«
Im Moment gab es nur zwei Dinge, die mich wirklich interessierten: Wer hatte das Geld bereitgestellt und den Tod unserer Eltern auf dem Gewissen? Und was war aus Flavie und den elf anderen geworden?
Aber Tyler gab sich noch nicht zufrieden. »Warum das alles?«, fragte er. »Welchen Sinn hat es, ein verdammtes Licht zu filmen?«
Die Mundwinkel der alten Frau hoben sich kaum merklich, aber sie lachte nicht. Der Schleier aus Selbstaufgabe und Zorn vor ihren Augen zerriss und sie sah uns der Reihe nach an, so triumphierend, als erwartete sie Applaus.
»Es ging nicht um das Licht«, sagte sie. »Nur um das, was darin ist. Oder dahinter.«
Hoch oben im
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