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Phantom der Lüste

Phantom der Lüste

Titel: Phantom der Lüste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanna Nowak
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fühlte sich müde und erschöpft. Doch zugleich war er froh, in diesem Moment nicht allein zu sein.
    „Es ist eine intime Frage. Viel mehr eine Bitte.“
    Intime Fragen waren gefährlich. Besonders für einen Mann wie ihn. Er warf einen Blick zu der Holzschüssel in Jeans Händen. Sie war leer. Die Frage stand ihm zu.
    „Ich würde gern dein Gesicht berühren.“
    Enjolras erschrak. Fatal! Es wäre fatal, wenn er… ihn spürte. Schon streckte der Jüngling die Hände nach ihm aus. Er durfte es ihm nicht erlauben, denn dann würde Jean erkennen, wer er tatsächlich war.
    Geistesgegenwärtig griff Enjolras nach der Schüssel, um sie in den mit Wasser gefüllten Behälter zu legen.
    „Ich… ich bin unrasiert, du würdest nur Haare fühlen“, stellte er klar, doch er spürte, wie sehr Jean diese plötzliche Zurückweisung irritierte. Aber wie hätte er die Narben in seinem Gesicht glaubhaft erklären können? Warum interessierte den Kerl überhaupt wie er aussah? Er war kein schöner Engel wie Jean. Der Junge wäre nur enttäuscht.
    „Dann beschreib dich. Bitte. Ich will eine Vorstellung von dir haben.“
    Enjolras seufzte.
    „Es ist so neu und erschreckend, dieses Nichts. Hätte ich den Unfall nicht gehabt, würde ich dich einfach sehen. Ganz selbstverständlich. Aber um mich herum ist nicht einmal Schwärze.“
    Es tat ihm in der Seele weh, diese Worte zu hören. Am liebsten hätte er sich zu Jean gesetzt, dessen Hand genommen und ihm erlaubt, ihn zu berühren. Aber das ging nicht. Die Narben würden ihn verraten und Jean für immer von ihm entfernen. Das würde er nicht aushalten.
    „Ich will es nur hören.“
    Also gut. „Ich bin groß, habe breite Schultern.“ Das war nicht gelogen. Und Enjolras hatte auch nicht vor, in diesem Fall die Unwahrheit zu sagen.
    „Deine Haarfarbe will ich wissen.“
    „Schwarz. Und blaue Augen.“
    „Schwarze Haare, blaue Augen. Ich versuche es mir vorzustellen.“ Ein Lächeln umspielte Jeans Lippen und es wurde immer größer. „Ich wünschte wirklich, ich könnte dich mit eigenen Augen sehen.“
    Enjolras lachte leise. „Vielleicht kannst du das bald wieder.“ Und das wäre der Moment, in dem Jean ihn zum Teufel jagen würde.
    Am Nachmittag hatte Enjolras das schwierige Gespräch einigermaßen verdaut. Der Jüngling schlief wieder. Er war noch immer ein wenig erschöpft, und Enjolras genoss die Ruhe, beobachtete ihn, während er schlief. Hin und wieder zuckte ein Arm oder etwas bewegte sich unter dem geschwollenen Augenlid. Wahrscheinlich träumte er.

    Sebastien legte sich ans Ufer des Sees, aus dem er soeben gestiegen war, und steckte sich einen Grashalm in den Mund. Dann legte er den Kopf leicht in den Nacken und sonnte sich. Die Wasserperlen glitzerten auf seinem athletischen Körper, der Jean noch muskulöser erschien als sonst. Und als sich Jean hinter ihn setzte, um seine Schultern zu massieren, bemerkte er, dass auch Sebastiens Haare anders aussahen. Sie waren nicht mehr braun, sondern rabenschwarz und leicht gewellt. Seine Haut fühlte sich anders an. Fester. Er spürte die harten Nackenmuskeln, strich über die Schultern, die ihm breiter erschienen. Und als Sebastien den Kopf noch stärker in den Nacken legte, sodass Jean sein Gesicht sehen konnte, blickte er nicht in die vertrauten Augen seines Jugendfreundes, sondern in die meerblauen Augen seines Retters. Ein Lächeln umspielte dessen volle Lippen. Er war um vieles älter als Sebastien,reifer, seine Züge markanter. Er war kein Jüngling, sondern ein Mann. Jean schluckte. Ein richtiger Mann.
    Jean war sich bewusst, dass er träumte. Und er bedauerte dies bis zu einem gewissen Grad. Doch Träume eröffneten auch Freiheiten, die er im richtigen Leben nicht hatte. Und die Fantasie, die er wieder und wieder durchspielte, wenn er sich sonst das Gemälde in seinem Zimmer ansah, schien nun noch intensiver. Geradezu greifbar. Während seine Hand über den schlanken Rücken des Fremden glitt, glaubte er, jedes kleine Härchen zu spüren. Jede noch so winzige Unebenheit. Seine Haut war ein wenig kühl. Doch unter Jeans Berührungen wurde sie schnell warm.
    „Ich sollte mich dafür bedanken, dass du mich gerettet hast“, sagte Jean, der nun sicher war, dass der Mann nicht Sebastien hieß.
    Der Dunkelhaarige verschränkte die Arme hinter dem Kopf und legte sich der Länge nach ins Gras, lächelte ihn an. Jean hatte nie ein schöneres Lächeln gesehen. Es verlieh dem markanten Gesicht etwas Warmes, geradezu

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