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Phantom der Lüste

Phantom der Lüste

Titel: Phantom der Lüste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanna Nowak
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ein Scherz war.
    „Ich will etwas über Enjolras den Heiler wissen.“
    Enjolras seufzte. Diesen Teil seines Lebens würde er am liebsten ganz verdrängen. Aber das konnte er Jean nur schwer erklären. Wahrscheinlich würde er es ohnehin nicht verstehen.
    „Bitte. Es ist nicht nur Neugier. Es ist auch wichtig für mich. Es gibt mir Mut, wenn du mir Geschichten und von den Wundern erzählst.“
    Das war ein Argument, das Enjolras akzeptieren musste. „Ich erzähle dir davon“, versprach er und Jean tastete nach dem Löffel, tunkte ihn ein, steckte ihn in den Mund, den er gleich darauf verzog.
    „Ich weiß, es schmeckt grässlich“, entschuldigte sich Enjolras.
    „In der Tat.“ Der Jüngling lachte erneut.
    Es war ein helles, herzerfrischendes Lachen, das Enjolras aus seiner dunklen Stimmung riss. „Na schön, Jean, was möchtest du wissen?“
    „Alles. Wo hast du praktiziert? Wie vielen Menschen hast du geholfen? Was war die schlimmste Krankheit, die du geheilt hast?“
    „Das sind viele Fragen auf einmal.“
    Jean nickte.
    „Vergiss nicht zu essen.“
    „Oh, nein, nein.“ Schnell verschwand der Löffel in seinem Mund.
    „Wo fange ich an … Ich stamme ursprünglich aus der Bretagne und führte ein gutes Leben, war ein angesehener Bürger. Mein Vater, der auch Heiler war, wie du weißt, unterwies mich in seiner Kunst. Ich habe keine einzige Universität von innen gesehen, mein Wissen wurde von einer Generation zur nächsten weitergegeben und ist so alt, dass es sich schwer zurückverfolgen lässt.“
    Die wertvollen Aufzeichnungen waren jetzt nicht mehr in seinem Besitz. Wie so vieles, das verlorengegangen war.
    „Meine Arbeit war jedoch weniger spektakulär, als du sie dir vielleicht vorstellst. Und es gab auch nicht wenige Menschen, die meine Tätigkeit mit Scharlatanerie verglichen und es vorzogen, sich von einem studierten Arzt untersuchen zu lassen. Meine Klientel bestand aus ärmeren Leuten, die sich einen Arzt nicht leisten konnten. Knechte, Mägde, manchmal auch Landstreicher. Ich erinnere mich an einen, der schlimme Wucherungen an den Füßen aufwies, die es ihm erschwerten, zu gehen. Ich habe ihn über mehrere Tage mit einer Kräutermixtur behandelt, die sehr gut anschlug. Am Ende der Woche war er wieder in der Lage zu springen, zu laufen und zu rennen.“
    „Das klingt wundervoll.“
    Es ist nicht halb so wundervoll wie dein Lächeln, dachte Enjolras und wischte den Gedanken fort.
    „Aber warum hast du das alles aufgegeben? Es war wegen einer Frau, habe ich recht?“
    Er schüttelte den Kopf. Wie kam der Junge darauf? Tatsächlich hatten Frauen in Enjolras Leben eine untergeordnete Rolle gespielt. „Vergiss nicht zu essen.“
    „Ja, ja.“
    „Ich hatte keine Frau.“
    „Also lebtest du allein?“
    „Nein. Mein Bruder und dessen Familie besaß ein großes Haus. Sie erlaubten mir, dort zu arbeiten.“
    „Ich verstehe es immer noch nicht.“
    „Was?“
    „Auch das klingt sehr gut. Warum hast du die Bretagne verlassen?“
    „Ich wollte die Welt sehen, noch mehr Menschen helfen, also ging ich … auf Reisen.“ Jetzt galt es, jedes Wort genau abzuwägen. Oh, wie er Lügen verabscheute. Aber dies war keine Lüge, sondern nur eine geschönte Darstellung, bei der er gewisse Entwicklungen wegließ. Es war ein Selbstschutz. Aber er tat es auch, weil er fürchtete, der Junge würde ihn verachten, wenn er ihm seine wahre Geschichte erzählte. Und das würde er, trotz all der schlechten Erfahrungen und Enttäuschungen, nicht ertragen.
    Vor seinem geistigen Auge spielten sich Szenen ab, die mit seiner Erzählung nicht viel gemein hatten.
    Er sah die junge Frau vor sich als sei es gestern gewesen. Blut strömte aus ihrem Unterleib. Das Kind war bereits tot. Jetzt lag auch sie im Sterben. Enjolras konnte nichts tun. Sein Hemd war voll mit dem Blut des Kindes und nun benetzte auch ihr Blut den weißen Stoff. Marias Gesicht wurde bleich. Ihre Augen starrten ins Leere. Die Lippen waren blau und aufgesprungen.
    „Nein!“, schrie die Zofe, die gerade ins Zimmer kam. „Oh Herrgott, nein!“
    Das nächste Bild, das sich vor seine Augen schob, war der finstere Kerker, in den sie ihn geworfen hatten. Er war angekettet wie ein Tier. Ein Eisenkragen lag um seinen Hals, erdrückte ihn fast mit seinem Gewicht. Ratten rannten zu seinen Füßen umher. Es gab keine Hoffnung.
    „Ich habe noch eine Frage.“ Jeans warme Stimme war wie ein Streicheln, das die schrecklichen Bilder verjagte.
    „Was?“ Er

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