Phantom der Lüste
Spät nachts. In der alten Gasse. Ich dachte, es sei ein Bettler.“
Also war Lamont tatsächlich hier. „Wo ging er hin? Was wollte er dort?“
„Ich habe keine Ahnung, Monsieur.“
Er knirschte mit den Zähnen. Also nur eine kurze Begegnung. Aber besser als nichts. Immerhin ein Beweis für seine Existenz. „Wenn er wieder auftaucht, sagt mir unbedingt Bescheid. Wenn jemand von Euch weiß, wo sein Versteck ist, will ich es wissen!“
Die Schankmagd und der Lump nickten und er lehnte sich zurück, faltete genüsslich die Hände. Sein Instinkt hatte ihn auf die richtige Spur geführt. Zwei Legenden, die zu einer verschmolzen. Das Phantom und der Mörder Lamont, der vor seiner Exekution geflohen war. Die Leute hatten seine Geschichte längst vergessen, doch in den Geheimakten war alles vermerkt, was damals tatsächlich vorgefallen war. Seitdem fehlte jede Spur von Lamont. Bis zum heutigen Tag. Wie es schien führten alle Wege ausgerechnet nach St. Marie-Etienne– den Ort seiner Jugend.
Ja, das Schicksal ging manchmal seltsame Wege. Ihm sollte das recht sein. Schwarze Magie. Hexerei. Pakt mit dem Teufel. Das alles warf man Lamont vor. Aber er glaubte nicht an solche Dinge. Er wusste nur, dass dieser Mann wie ein Schatten war, überall und nirgends. Aber genau das machte seinen Auftrag interessant, weckte seinen Ehrgeiz, seinen Jagdinstinkt. Er würde nicht eher ruhen, ehe er Louis Lamont gefunden und seiner gerechten Strafe zugeführt hatte.
Er trank seinen Becher leer und warf ein paar Münzen auf den Tisch. „Ist ein Gästezimmer frei?“, fragte er.
Die Wirtsfrau nickte und sammelte rasch die Taler ein. Kurz nach Mitternacht betrat er sein Zimmer. Es war einfach, doch sauber. Oh, welch ein Luxus. Er hatte in den billigsten Absteigen gehaust. In manchen hatte er sich mit Ratten das Lager geteilt. Aber dies war angenehm. Er trat ans Fenster und blickte in die Nacht hinaus. Louis Lamont war hier. Irgendwo. In der Nähe. Er konnte es förmlich spüren. Zufrieden kraulte er seinen Kinnbart. Die Reise würde ein baldiges Ende haben.
Sie saßen nackt vor dem Kaminfeuer, das knisternd züngelte. Nur eine Decke hing über ihren Schultern, die gerade groß genug war, sie beide einzuhüllen. Sein Kopf lehnte an Enjolras Schulter. Kurz hatte er an das Holzbild und dessen Symbolik denken müssen, weil es ihn so sehr an seine Fantasie mit Sebastien erinnerte. Doch jetzt war der Traum, jemals wieder mit Sebastien vereint zu sein, ausgeträumt. Jean verspürte nicht mehr das Bedürfnis, ihn zu finden und ihm seine Gefühle zu gestehen. Er wollte auch nicht mehr dem Heer beitreten. Das einfache Leben, das war es, was er wollte. Wonach er sich sehnte. Keine Feste. Keine gesellschaftlichen Anlässe. Dafür verzichtete er gern auf vornehme Gewänder und teuren Schmuck. Hier, in Enjolras Armen, war er jetzt zu Hause.
Aber tief im Innern wusste Jean, dass dieser Zustand nicht ewig anhalten konnte. Sein Vater ließ nach ihm suchen. Und es war nur eine Frage der Zeit, bis er die kleine Hütte im Wald und somit auch Jean finden würde. Jean aber wollte keinesfalls in sein altes Leben zurück.
„Ich möchte fortgehen von hier“, flüsterte Jean und küsste Enjolras Ohrläppchen, zupfte sanft mit den Lippen an ihm. „Mit dir“, fügte er hinzu und strich über die welligen Haare seines Gefährten, die sich fast so fest wie Pferdehaare anfühlten.
„Warum so plötzlich? Wir haben hier alles, was wir brauchen.“
Jean wusste, dass er bald die Karten auf den Tisch legen musste. Er konnte Enjolras nicht länger etwas vormachen und er überlegte, wie er ihm am besten beibrachte, wer er tatsächlich war. Der Sohn eines Adligen, der vor seiner eigenen Hochzeit geflohen war.
„Wirst du verfolgt?“, unterbrach Enjolras seine Gedanken.
„Nein. Nein, das nicht.“
„Aber?“
Jean atmete tief durch und erzählte Enjolras alles. Wie er sich vor jeder Verlobung erfolgreich gedrückt, doch wie sein Vater ihm schließlich die liebreizende Francoise vor die Nase gesetzt hatte, die Jean zwar sehr mochte, aber nicht liebte.Und natürlich erzählte er von seiner halsbrecherischen Flucht, von der Enjolras nun ein Teil geworden war.
„Ich verstehe“, sagte der und Jean konnte sein Schmunzeln förmlich hören. „Das ändert einiges.“
„Ich möchte bei dir bleiben, Enjolras“, gestand Jean. „Aber Vater würde es mir nie erlauben.“
Enjolras Arm legte sich um Jean und ein Kuss benetzte seine Stirn. Sanft glitt seine Hand
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