Phantom der Lüste
den Mann an, der sich sogleich duckte, als erwartete er tatsächlich die angekündigten Schläge. „Fort mit dir!“
Endlich schien der Kerl zu gehorchen, schützend die Hände über seinem Kopf erhoben, wich er zurück und verschwand in einer Seitengasse.
Gen Nachmittag hatte er ganz St. Marie-Etienne durchwandert, ohne auch nur einen Hinweis gefunden zu haben, der ihn weiterbrachte. Ernüchterung machte sich breit. Wenn es hart auf hart kam, würde er den Wald durchforsten müssen. Irgendwo musste Lamont Unterschlupf bezogen haben. Er wollte eben in das Gasthaus zurückkehren, als erneut jemand an seinem Ärmel zog. Wutentbrannt fuhr er herum. Jetzt würde es was setzen! Wie konnte es dieser zahnlose Flegel wagen, ihm immer noch nachzustellen? Das würde ein Nachspiel haben, darauf konnte sich der Alte verlassen. Doch just in dem Moment, in dem er mit der Hand ausholte, unterbrach ihn der Bettler.
„Herr, oh Herr, Ihr seid noch immer auf der Suche nach dem Phantom, nicht wahr?“
Er nickte.
„Ich habe es gesehen. Er ist hier! Hier in St. Marie-Etienne.“
„Was sagst du da? Du hast wohl zu viel gesoffen.“
„Nein, Herr. Ich sage die Wahrheit. Er ist hier, der Mann mit dem Narbengesicht. Derselbe Mann wie auf dem Bild, das Ihr den Leuten zeigt.“
Allmählich dämmerte ihm, dass der Bettler tatsächlich etwas gesehen hatte, womöglich war es wirklich Louis Lamont? Welch Ironie das wäre! Er konnte es nicht recht glauben.
„Wehe wenn dies ein Streich ist!“
„Ich schwöre es, Herr.“
„Na schön, wo ist er? Wo hast du ihn gesehen?“
„Für einen Groschen, Herr, sag ich es Euch.“
„Du! Ich werde dir gleich…“ Seine Hand zuckte. Er hätte sich ja gleich denken können, dass es einen Haken gab.
„Herr, nur ein Groschen.“
Widerwillig griff er in seinen Geldbeutel, holte einen silbernen Taler heraus. Gier blitzte in den Augen des Bettlers auf. Sein Gesicht nahm die Form eines grinsenden, zahnlosen Vollmonds an. Hastig öffnete er die verschmutzte Hand, um das Geldstück in Empfang zu nehmen.
„Ich warne dich, Bettler. Wenn das ein Trick ist, wirst du mich kennenlernen!“
„Ich würde es nie wagen, einen Mann des Gesetzes zu hintergehen“, beteuerte der Zahnlose und Speichel tropfte aus seinen Mundwinkeln.
„Ich habe dich gewarnt.“ Er ließ das Geldstück in die offene Hand fallen und die Finger des Bettlers schlossen sich wie Krallen um den Groschen, als fürchtete er, man könne ihm diesen sogleich wieder wegnehmen.
„Folgt mir, Herr.“
Er führte ihn zu derselben Stadtmauer, an der er heute Mittag schon einmal gestanden hatte. Dort stand eine dunkle Gestalt, die interessiert die Steckbriefe las. Einen davon riss sie sogar ab und faltete ihn zusammen, steckte ihn ein.
Der Bettler deutete auf den Vermummten und sofort spürte er dieses Kitzeln im Nacken, das immer dann auftrat, wenn er einem Verbrecher gegenüberstand. Die Erscheinung, die dunkle Kutte, hier wollte jemand nicht erkannt werden. Er erinnerte sich an einen Eintrag, den er in den Akten gelesen hatte und der ihm besonders wichtig erschienen war.
Der Todestag der Maria Héroard, der vor zehn Jahren in den Straßen von Paris betrauert wurde. An diesem Tag war eine Gestalt in dunkler Kutte am Markt gesichtet worden, wo auch das Denkmal der jungen Frau gestanden hatte. Er erinnerte sich an die Skizzen und Zeichnungen jener Gestalt, die den Akten zufolge Louis Lamont gewesen sein sollte. Sein letztes öffentliches Auftauchen. Er hätte wohl blind sein müssen, um die Ähnlichkeit zu der Verkleidung des Mannes vorihm nicht zu erkennen. Er sah quasi wie eine fleischgewordene Zeichnung aus der Akte aus.
Jetzt wurde er ganz euphorisch. Und nervös. Er durfte keinen Fehler machen. Nicht zu viel Aufsehen erregen. Natürlich konnte jeder solch eine Kutte besitzen. Das war ihm klar. Doch sein Instinkt sagte ihm, dass dies der richtige Mann war. Das Phantom!
„Bist du sicher, dass es dieser Mann ist?“ Er zeigte dem Bettler noch einmal die Zeichnung von Louis Lamont. Der Alte nickte heftig. „Ja, Herr, ja. Nur die Narben, die sehen noch schrecklicher aus als auf Eurem Bild.“
Zitternd zerknüllte er das Papier in seiner Hand und ließ es zu Boden fallen. Endlich hatte die Jagd ein Ende! „Du darfst gehen. Du hast deinen Dienst getan“, sagte er zu dem Bettler, der sich ungeschickt verneigte.
Aber als er sich zu dem Vermummten umdrehte, war dieser fort.
Schweiß trat auf seine Stirn. Nein! Er durfte ihm nicht
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