Phantom der Lüste
wunderschöner Schmetterling. Und welch herrliche Bilder sie in seinen Kopf gezaubert hatte. Er seufzte. Kalte Luft drang in das Zimmer, kühlte sein erhitztes Gemüt ab. Draußen regnete es in Strömen.
Jean konnte nicht länger abwarten und nichts tun. Entschlossen stieg er aus dem Bett, rang den kurzen Schwindel, der ihn fast von den Beinen riss, nieder und ging zur Tür. Francoise hatte nicht gelogen. Draußen stand tatsächlich ein Wachmann. Jean schob sich an ihm vorbei, in der festen Absicht, sich weder von ihm noch von sonst jemandem aufhalten zu lassen. Er musste mit Vater sprechen. Vor allem aber musste er Enjolras aus seinem Gefängnis befreien. Hier lag ein Missverständnis vor. Enjolras war nicht Lamont. Das hätte er ihm erzählt. Sie hatten keine Geheimnisse voreinander.
„Wo wollt Ihr hin?“, donnerte plötzlich eine tiefe Stimme in sein Ohr und eine schwere Hand legte sich auf seine Schulter, hielt ihn fest.
„Zum Comte“, sagte Jean und sah dem Wächter fest in die Augen.
„Ihr dürft Euer Zimmer nicht verlassen. Das hat Euer Vater befohlen.“
„Und wenn schon.“ Jean riss sich los, doch schon suchte ihn der nächste Schwindelanfall heim. Er war dieses Mal so stark, dass er zu Boden stürzte. Gerade noch rechtzeitig konnte er sich mit beiden Händen abfangen.
„Ich helfe Euch“, sagte die Wache und griff ihm unter die Arme.
Seine Knie waren weich, als ihn der Wachmann stützend in sein Zimmer zurückbrachte.
„Ich richte Eurem Vater aus, dass Ihr ihn sprechen wollt“, versprach dieser und Jean legte sich hin.
Er war noch immer geschwächt, konnte nichts unternehmen. Das machte ihn rasend. Diese Hilflosigkeit.
Eine Stunde später klopfte es an seiner Tür. Jean hoffte, dass es sein Vater war, stattdessen trat der Leibarzt der Familie, Doktor Robienne, ein. Jean hatte ein gutes Verhältnis zu ihm, schon in Kindertagen hatte der inzwischen 60-jährige Arzt ihn untersucht.
„Wie geht es Euch, Jean?“ Der Arzt trat an sein Bett und nahm sein Handgelenk, um seinen Puls zu messen. „Ich hörte, Ihr hattet Schwindelattacken?“
„Es geht mir schon wieder besser.“
„Das freut mich zu hören. Euer Herz ist kräftig. Nach allem, was Ihr in den Wäldern von Gavaine offenbar erlebt habt, sind kleine Schwächeanfälle ganz normal.“
„Mir geht es wirklich gut, Doktor. Ich brauche keine Überwachung. Bittet sagt dies meinem Vater.“ Es wäre ihm schon geholfen, wenn Vater die Wache abziehen würde.
„Ich rede mit ihm“, versprach Doktor Robienne und tastete seine Wangen ab. „Was sind das für Hämatome in Eurem Gesicht?“
Offenbar kannte er die Geschichte noch nicht. Jean beeilte sich, ihm alles zu erzählen. Er wusste, dass er seinem Leibarzt uneingeschränkt vertrauen konnte.
„Und jetzt könnt Ihr wieder sehen?“, vergewisserte sich Robienne.
Jean nickte. Es war ein Wunder.
„Wie viele Finger seht Ihr hier?“ Der Arzt hielt drei hoch.
„Drei“, bestätigte Jean.
Robienne tastete seinen Kopf noch einmal genauer ab. „Die Verletzungen sind äußerlicher Natur. Ich sehe keinen Anhaltspunkt für eine Erkrankung Eurer Augen. Es muss wohl der Schock Eures Sturzes gewesen sein, der Euch blind gemacht hat.“
Jean war erstaunt, doch erleichtert, das zu hören.
„Gönnt Euch ein paar Tage Ruhe, dann werdet Ihr wieder der alte sein.“
Ruhe war das Letzte, was er jetzt brauchte. Er musste Enjolras helfen. Das duldete keinen Aufschub. Sein Freund litt! Außerdem, und das war ihm in diesem Moment vielleicht noch wichtiger, wollte er wissen, was an den Vorwürfen dran und ob Enjolras ihm die ganze Zeit über verheimlicht hatte, dass er in Wahrheit Louis Lamont war.
Jean ruckte hoch und Robienne erschrak. „Ruhe, mein Freund. Ihr braucht Ruhe“, wiederholte er.
Aber Jean war so aufgewühlt, dass er nicht länger still liegen konnte.
„Ich gebe Euch etwas, das Euch helfen wird“, sagte Robienne und öffnete seine Tasche. Daraus nahm er eine kleine Phiole und goss deren Inhalt in einen Becher.
„Was ist das?“, fragte Jean, der krampfhaft überlegte, wie er die Wachen austricksen konnte.
„Etwas für die Nerven.“ Robienne lächelte sanft.
Jean nahm den Becher und schluckte das bittere Zeug hinunter. Aber es war nicht nur für die Nerven, es machte auch unbeschreiblich müde. Schon flirrte es vor seinen Augen und keinen Atemzug später schlief er ein.
Er hatte es von Anfang an geahnt. In dem Moment, in dem er den Jungen in sein Bett gelegt hatte, hatte
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