Phantom der Lüste
Enjolras gewusst, dass er sich in Schwierigkeiten brachte.
Allerdings hatten diese nun Ausmaße angenommen, die seine schlimmsten Alpträume übertrafen. Jede verdammte Faser seines Körpers schmerzte. Die Neunschwänzige hatten sie ihn spüren lassen, ihn mit den Händen nach oben an einen Balken gefesselt und mit Schlägen malträtiert. So lange, bis er es nicht mehr ausgehalten und alles gestanden hatte, was diese Mistkerle von ihm hören wollten. Wie damals. Als er sich selbst der dunklen Magien bezichtigt hatte, weil sie ihm mit dem glühenden Eisen die Haut versengten. Sein Gesicht für immer entstellten.
Er spuckte auf den Boden, schmeckte Blut in seinem Mund. Durch die Gitterstäbe sah er den Mond, der unscheinbar hinter dichten Regenwolken hervorlugte. Rinnsale flossen an der Mauer hinab in sein feuchtes Gefängnis. In der Ferne vernahm er Donnergrollen. Ein Unwetter nahte.
Enjolras versuchte zu schlafen, die verbliebenen Kräfte zu sammeln, denn er würde sie für die lange Reise nach Paris brauchen. Doch die Schmerzen hielten ihn wach und seine Stirn glühte. Gedankenschlaufen quälten ihn. Wieder und wieder sah er seine eigenen Folterungen vor sich, die sich zu einer vermischten, er spürte all die Schmerzen und die Demütigungen noch einmal. Das finstere Lachen seiner Folterknechte, die augenscheinlich Spaß daran hatten, ihn zu quälen. Schüttelfrost und heiße Schauer wechselten sich ab.
Man würde ihn hinrichten. Das war so sicher wie das Amen in der Kirche. Dieses Mal gab es kein Entrinnen. Merkwürdigerweise fand er sich damit recht schnell ab. Vielleicht weil er einfach müde war. Weil er verlernt hatte zu kämpfen. Und weil er älter war als damals, wo sein Leben gerade erst begonnen hatte und im nächsten Atemzug bereits wieder zu enden schien. Jetzt war er älter, hatte sein Leben gelebt und war durch Höhen und Tiefen gegangen.
Wenn er zumindest einmal noch in Jeans Augen sehen dürfte. Ihn noch einmal berühren, seinen weichen Körper an seinem spüren, ihn halten. Eine heiße Träne rann über seineWange. Nur dieser eine Wunsch, der sollte ihm noch erfüllt werden. Aber der Comte und seine Leute würden Jean niemals in die Nähe eines Mannes wie ihn lassen.
Enjolras starrte vor sich hin, blickte unbewusst zu der vergitterten Tür, wo plötzlich eine Gestalt in weißer Gewandung auftauchte. Sie stand einfach nur da, gleich einer Erscheinung, einem Engel, der ihn voller Liebe anblickte. Jetzt fantasierte er auch noch.
Er hörte das leise Drehen eines Schlüssels, dann das Knarren der Gefängnistür. Auf leisen Sohlen trat die Gestalt zu ihm, bückte sich.
„Enjolras“, flüsterte sie mit zärtlicher Stimme, und er erkannte sie wieder.
Sie gehörte Jean, der nun vor ihm saß und seine Hand nach seiner glühenden Wange ausstreckte. Ungläubig musterte er dessen sanfte Züge. Die Schwellungen im Gesicht waren verschwunden und Enjolras hatte recht behalten. Er war wunderschön.
„Es wird alles gut, Enjolras, das verspreche ich dir.“
Hoffnung keimte in ihm auf. Der Junge konnte offenbar wieder sehen! Wie das sein Herz erleichterte! Und noch leichterwurde ihm, weil er nicht vor ihm zurückschreckte, wie er es immer befürchtet hatte. Vielleicht konnte er dem Schicksal doch einen Streich spielen, seiner Hinrichtung ein zweites Mal entgehen. Wie damals, als er den Wächter überwältigt und dessen Schlüsselbund an sich genommen hatte. Enjolras war durch den Gefängnistrakt geflohen. Die anderen Gefangenen hatten ihn angefleht, auch sie zu befreien, doch in seiner Panik war er immer nur weitergerannt. Gerannt um sein Leben.
„Ich werde dir helfen“, flüsterte Jean und küsste ihn.
Ein seltsamer Schimmer umgab den Jungen, ließ ihn wirken, als sei er gar nicht von dieser Welt. Die Augen waren von einem solch unnatürlichen Blau, dass sie selbst im Dunkeln leuchteten. Zwei strahlende Saphire. Er hatte nie etwas Schöneres gesehen und schmerzlich wurde er gewahr, dass dieses Wesen vor ihm nicht sein Jean war.
Er fieberte.
Der Heiler in ihm reagierte wie immer rational. Ein Fiebertraum. Und wenn schon. Irgendjemand zeigte Gnade mit ihm, erfüllte ihm seinen letzten Wunsch. Und wie schön es war, Jeans Nähe noch einmal zu spüren, auch wenn er nicht echt war. Das war in diesem Moment egal.
Jean bedachte ihn mit einem solch zärtlichen und liebevollen Blick, dass Enjolras selbst die schlimmsten Qualen verdrängte. Im Moment gab es nur ihn und diese geisterhafte Gestalt. Diesen
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