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Phantom des Alexander Wolf

Phantom des Alexander Wolf

Titel: Phantom des Alexander Wolf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: G Gasdanow
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verschwunden, die ich bislang gekannt hatte. Als sie sich über den Tisch beugte, erblickte ich ein großes Muttermal unterhalb des rechten Schlüsselbeins, und sogleich überlief mich eine warme Welle von Dankbarkeit und Zärtlichkeit; da fiel mir ihr unbeweglicher Blick auf.
    »Woran denkst du?«, fragte ich.
    »Daran, dass wir beide uns erst so kurz kennen, und doch, scheint mir, habe ich noch nie jemanden gekannt, der mir näherstünde als du.«
    Dann fügte sie hinzu:
    »Ich werde dir nicht immer solche Dinge sagen, also gewöhne dich besser nicht daran.«
    Sie goss Wein in die Gläser, einen besonderen, aromatischen und starken Wein, und so schlecht ich mich auch auskannte in Weinen, musste sogar mir auffallen, dass er wohl sehr gut war. Und sie sagte:
    »Worauf trinken wir beide?«
    »Darauf, dass wir uns an nichts gewöhnen«, sagte ich.
    Sie wiegte den Kopf, und wir tranken schweigend. Und wenngleich es eigentlich ein normales Dejeuner war mit einer Frau, die ich vor einer Woche kennengelernt hatte und die gestern meine Geliebte geworden war, zumal sie nicht die erste oder einzige in meinem Leben wie auch ich nicht ihr erster oder einziger Geliebter war; wenngleich darin äußerlich, so schien es, nichts Ungewöhnliches oder Außerordentliches lag, hatte das fast feierlich geklungen, wie Worte, die man vielleicht einmal im Leben ausspricht, wenn man in den Krieg zieht oder für immer abreist.
    Nach dem Dejeuner saßen wir beide sehr lange beim Kaffee. Im Sonnenlicht, das durchs Fenster drang, wölkten sich und verflogen Ströme von Zigarettenrauch. Sie saß noch immer im Bademantel, und als ich sie darauf ansprach, erwiderte sie lächelnd:
    »Ich erwarte niemanden, für wen sollte ich mich ankleiden. Was dich betrifft, scheint mir, dass du mich sogar ohne Bademantel vorziehst, überhaupt ist alles unschwer vorauszusehen. Nein, warte«, sagte sie, weil sie an meiner Bewegung sah, dass ich vom Sessel aufstehen wollte. »Warte, ich bin hier, gehe nirgendwohin, und ich habe nicht den Wunsch, von dir fortzugehen. Aber ich möchte gern mit dir reden. Berichte mir, wie du bisher gelebt hast, wen du geliebt hast und wie du glücklich warst.«
    »Ich weiß gar nicht, womit beginnen«, sagte ich. »Eine komplizierte, lange und widersprüchliche Geschichte. Jeden Morgen, wenn ich aufwache, meine ich, gerade heute würde das Leben erst richtig beginnen, mir ist, als wäre ich kaum älter als sechzehn und als wäre der Mann, der so viele tragische und traurige Dinge kennt, der gestern Nacht auf meinem Bett eingeschlafen ist, mir fremd und fern, und ich begreife weder seine seelische Müdigkeit noch seine Trübsal. Und jede Nacht habe ich beim Einschlafen das Gefühl, wie wenn ich ein sehr langes Leben gelebt hätte und alles, was mir geblieben ist, wäre Abscheu und die Last endloser Jahre. Der Tag vergeht, und in dem Maße, wie er sich seinem Ende zuneigt, dringt dieses Gift seelischer Müdigkeit tiefer und tiefer in mich ein. Aber das ist natürlich kein Bericht über mein Leben. Ich sage dir nur, wie ich mich üblicherweise gefühlt habe bis zu dem Abend, als du, zum Glück, keine Eintrittskarte für den Boxkampf hattest.«
    »Du bist verhältnismäßig jung und meines Erachtens vollkommen gesund«, meinte sie. »Und du kannst sagen, was du willst, aber an deine seelische Müdigkeit glaube ich nicht recht. Wenn du dich selbst sehen könntest in gewissen Momenten, würdest du verstehen, weshalb so wenig überzeugend klingt, was du über deine Müdigkeit sagst.«
    »Niemals habe ich gesagt, ich könnte dir gegenüber seelische Müdigkeit empfinden. Wenn ich dich sehe…«
    »So ist das, als wenn es Morgen wäre?«
    »So ist das, als wenn es Morgen wäre.«
    »Aber wir kommen von der Hauptsache ab«, sagte sie. »Wo wurdest du geboren, wo bist du aufgewachsen, wohin und weshalb bist du weggezogen, und wie lautet dein Nachname? Denn bislang kenne ich nur deinen Vornamen. Wo hast du studiert, und hast du überhaupt studiert?«
    »Ja«, sagte ich. »Bestimmt vergebens, aber studiert habe ich lange und recht unterschiedliche Dinge.«
    Und ich begann, ihr von mir zu erzählen. Es kam mir vor, als ob mir bis zu diesem Tag mein eigenes Schicksal nie so klar gewesen wäre wie jetzt. Ich fand in meinen Erinnerungen vieles, was mir früher nicht aufgefallen war, fast lyrische Dinge; nur hatte ich, während ich unaufhörlich weiterredete, das dunkle Gefühl, wäre Jelena Nikolajewna nicht gewesen, hätte ich wohl nicht zu der

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