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Phantom des Alexander Wolf

Phantom des Alexander Wolf

Titel: Phantom des Alexander Wolf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: G Gasdanow
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plötzlichen Macht und Frische meiner Erinnerungen gefunden, denn diese gab es womöglich gar nicht außerhalb des Gedankens an sie und außerhalb der Gegenwart dieser Frau im Bademantel, mit dem glatt zurückgekämmten Haar und dem fernen Blick der nachdenklichen Augen.
    »Du wirst mich entschuldigen, wenn mein Bericht nicht in streng chronologischer Folge verläuft?«, fragte ich.
    Sie nickte. Ich erzählte ihr an diesem Tag vieles: vom Krieg, von Russland, von den Reisen, von meiner Kindheit. Vor mir tauchten die unterschiedlichsten Menschen auf, die ich gekannt hatte: Lehrer, Offiziere, Soldaten, Beamte, Kameraden – und ganze Länder zogen an meinen Augen vorüber. Subtropische Landschaften kamen mir in den Sinn, gleichmäßige Quadrate brauner Erde, schmale weiße Wege und das in der heißen und unbeweglichen Luft weithin hörbare Quietschen eines armseligen hölzernen Bauernkarrens; die traurigen Augen einer zum Skelett abgemagerten kleinen Kuh, neben einem Esel dem Pflug vorgespannt, mit dem ein griechischer Bauer in dunkelgrauem Tuchburnus und weißem Filzhut die harte Erde pflügte; und dass in der Türkei Entfernungen nach der Zeit gemessen werden, bis zu einem bestimmten Ort sind es nicht soundso viele Kilometer, sondern soundso viele Stunden zu Fuß; die Eiswinde Mittelrusslands und das federnde Knirschen des Schnees unter den Füßen, dann die Meere, die Flüsse, die Wildenten über der Donau, dann die Dampfer und die Züge – alles, wohin mich die unerklärliche Bewegung meines Lebens geführt hatte. Danach kehrte ich wieder zum Krieg zurück und zu den Tausenden von Leichen, die ich gesehen hatte, und plötzlich fiel mir die Rede meines Russischlehrers ein, der auf der Abiturfeier gesagt hatte:
    »Ihr tretet ins Leben, und ihr müsst euch an dem beteiligen, was Kampf ums Dasein genannt wird. Es gibt ihn, grob gesagt, in drei Formen: den Kampf bis zur Niederlage, den Kampf bis zur Zerstörung und den Kampf bis zur Übereinkunft. Ihr seid jung und voller Kraft, euch lockt natürlich die erste Form. Aber denkt immer daran: Die humanste und vorteilhafteste Form ist der Kampf bis zur Übereinkunft. Und falls ihr euch das für euer ganzes Leben zum Prinzip macht, so würde das heißen, dass die Kultur, die wir euch zu übermitteln suchten, nicht spurlos an euch vorübergegangen ist, dass ihr wahre Weltbürger geworden seid und dass auch wir folglich nicht umsonst gelebt haben auf Erden. Falls es anders sein sollte, hieße das nämlich, dass wir nur Zeit vergeudet haben. Wir sind alt, wir haben keine Kraft mehr, ein neues Leben zu schaffen, uns bleibt nur eine Hoffnung, und das seid ihr.«
    »Ich glaube, dass er recht hatte«, sagte ich. »Doch leider hatten wir nicht immer die Möglichkeit, uns die Kampfform auszusuchen, die wir für die beste hielten.«
    »Hast du gute Erinnerungen an deine Lehrer?«
    Wir saßen beide auf dem Diwan, ich hatte den rechten Arm um sie gelegt, und durch den flauschigen Bademantel spürte ich die Wärme ihres Körpers.
    »Nein, längst nicht an alle.« Ich lächelte, weil ich an einen Geistlichen dachte, der uns in den oberen Klassen Religionsunterricht gegeben hatte, einen hochgewachsenen, zerstreuten Mann in lila Seidensoutane. Er sagte mit sterbenslangweiliger Stimme:
    »Es gibt viele Beweise für die Existenz Gottes. Es gibt einen juristischen Beweis, es gibt einen logischen Beweis, es gibt einen philosophischen Beweis.«
    Dann sann er einen Moment nach und fügte hinzu:
    »Es gibt sogar einen mathematischen Beweis, aber den habe ich vergessen.«
    »Wo hast du dein Studium aufgenommen? In Paris?«
    »Ja, und das war gar nicht so einfach.«
    Ich erzählte ihr, dass ich vom früheren russischen Konsul einen Schein bekommen musste, den nur er mir ausstellen konnte, als Ersatz für die Geburtsurkunde. Der Konsul war ein kleiner, grimmiger Greis mit riesigem grauem Bart, und er sagte zu mir:
    »Nichts werde ich Ihnen ausstellen. Woher weiß ich, wer Sie sind? Vielleicht sind Sie ein Berufsverbrecher, vielleicht ein Mörder, vielleicht ein Bandit. Ich sehe Sie zum erstenmal im Leben. Wer kennt Sie in Paris?«
    »Niemand«, sagte ich. »Ich habe hier ein paar Kameraden, mit denen ich zur Schule ging, aber sie sind Menschen wie ich, niemanden davon kennen Sie persönlich, und nichts brächte Sie von der Annahme ab, dass jeder von ihnen auch ein Berufsverbrecher und ein Mörder ist und zudem mein Komplize.«
    »Wozu brauchen Sie den Schein?«
    »Ich möchte mich an der

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