Phantom des Alexander Wolf
mir vor, als litte ich an einer unsichtbaren Brandwunde. Nach drei Uhr morgens ging ich; die Nacht war kalt und sternenklar. Ich hatte Lust, zu Fuß zu gehen, ich schritt durch die verlassenen Straßen, und da verspürte ich auf einmal, ebenfalls das erste Mal in meinem ganzen Leben, ein ungewöhnlich durchsichtiges Glücksgefühl, und mich störte nicht einmal der Gedanke, es könnte eine Täuschung sein. Ich prägte mir die Häuser ein, an denen ich vorüberkam, den Geschmack der kalten Winterluft und den leichten Wind an der Straßenbiegung – alles Dinge, die mein Gefühl begleiteten. Dass ich solch ein durchsichtiges Glücksgefühl empfand, schien besonders überraschend, nachdem ich einige Stunden lang diese ruhigen Augen vor mir gesehen hatte, in deren Ausdruck etwas Herabsetzendes für mich lag, weil es mir nicht gelungen war, ihn zu ändern.
Und als ich am nächsten Tag erwachte, erschien mir, was mich umgab und was ich derart gewohnt war, die ganze Welt der Menschen und Dinge, in der gewöhnlich mein Leben verlief – alles erschien mir verwandelt und anders, wie ein Wald nach dem Regen.
Ich hatte mich fast im Morgengrauen von ihr verabschiedet, und am nächsten Tag ging ich schon um ein Uhr mittags erneut auf den Eingang ihres Hauses zu. Ich hätte nicht erklären können, was sich im Lauf dieser Nacht eigentlich verändert hatte, aber mir war klar, dass ich weder die Rue Octave Feuillet noch die Avenue Henri Martin, noch das Haus, in dem sie wohnte, je so gesehen hatte. Alles, die Steinmauern, die Bäume ohne Laub, die Fensterläden an den Häusern und die Treppenstufen – alles, was ich so gut und so lange kannte, alles hatte jetzt einen neuen, bisher nicht existenten Sinn bekommen, gerade als wäre es die Dekoration für das einzige und natürlich unübertreffliche Theaterstück, das menschliche Einbildungskraft hervorzubringen vermag. Es konnte so etwas wie eine Dekoration sein. Es konnte außerdem so etwas wie eine Art visueller Ouvertüre zu der anhebenden – und ebenfalls natürlich unübertrefflichen – Melodie sein, die von Millionen Menschen ich allein hörte und die sogleich erklingen würde, wenn die Tür im ersten Stock vor mir aufginge, eine Tür wie tausend andere und dennoch die einzige in der Welt. Mir schien damals – und alle meine Erfahrung, alles, was ich wusste, sah und verstand, alle Geschichten von Treubrüchen, Unglücken, Dramen sowie die tragische Unbeständigkeit alles Seienden waren zu schwach, dem etwas anzuhaben – mir schien damals, als sei geschehen, worauf ich mein Leben lang so vergeblich gewartet hatte und was kein Mensch außer mir selbst begreifen konnte, denn niemand hatte so gelebt wie ich und niemand kannte die Dinge in ebender Zusammensetzung, die für meine Existenz charakteristisch war. Mir schien, als könnten mein Glücksempfinden und meine Auffassung von Glück nicht so umfassend sein, wenn in meiner Lebensgeschichte nur ein winziges Detail fehlte. Mir schien alles so vollkommen unbezweifelbar wie gleichermaßen unwahrscheinlich zu sein. Als ich durch die Avenue Victor Hugo ging, schien es mir plötzlich, als könnte das alles gar nicht sein, und ich empfand eine Art seelisches Schwindelgefühl, wie wenn es eine Episode wäre aus einem Kinderbuch über wundersames Verschwinden.
Anny sagte, Madame werde gleich kommen, und brachte mich ins Esszimmer. Der kleine Tisch war schon vorbereitet, mit zwei Gedecken und Weingläsern, und in dem einen blinkte, als wäre es gefüllt mit einer unsichtbaren, durchsichtigen Flüssigkeit, ein dünner Lichtstrahl; da fiel mir ein, dass sonniges Winterwetter war. Ich saß im Sessel und rauchte eine Zigarette. Dass ich eine Zigarette rauchte, bemerkte ich erst in dem Moment, als die herabfallende Asche mir die Hand verbrannte und in den Ärmel rutschte.
Wenige Augenblicke bevor Anny das Dejeuner servierte, trat Jelena Nikolajewna ins Zimmer. Sie hatte davor bloß ein Bad genommen und sich nicht die Mühe gemacht, sich anzukleiden. Sie trug einen Bademantel, ihr Haar war zurückgekämmt, und das verlieh ihrem Gesicht eine besondere Klarheit der Konturen und zugleich, so überraschend wie angenehm, einen Ausdruck seelischen und körperlichen Behagens. Sie fragte mich mit ironischer Zärtlichkeit in der Stimme, ob ich gut geschlafen hätte und ob ich Appetit hätte. Ich bejahte, ohne den Blick von ihr zu wenden. Sie hatte sich ebenso verändert wie alles, was ich ringsum sah, aus ihrem Gesicht war die Distanziertheit
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