Phantom des Alexander Wolf
unglaublich vor, ich konnte mich noch immer nicht daran gewöhnen, dass ich endlich in keine Tragödie mehr verwickelt war, dass ich eine Arbeit hatte, die mich interessierte, dass es eine Frau gab, die ich liebte, wie ich nie jemanden geliebt hatte – und sie war keine Verrückte, keine Hysterikerin, ich musste nicht jeden Moment auf einen Anfall unerwarteter Leidenschaft oder einen Ausbruch unverständlichen Zorns oder unaufhaltsame und sinnlose Tränen gefasst sein. Alles, woraus bislang mein Dasein bestanden hatte – Bedauern, Unbefriedigtsein und eine unverkennbare Vergeblichkeit von allem, was ich tat –, erschien mir nun außerordentlich fern und fremd, gerade als dächte ich an etwas längst Vergangenes. Und zu diesen verschwindenden Dingen und schwächer werdenden Erinnerungen gehörte auch die Erinnerung an Alexander Wolf und seine Erzählung »Abenteuer in der Steppe«. Sein Buch stand nach wie vor bei mir im Regal, aber ich hatte es schon lange nicht mehr aufgeschlagen.
* * *
Als ich einmal ihre Wohnung betrat – ich hatte einen eigenen Schlüssel –, hörte ich, dass Jelena Nikolajewna sang. Ich blieb stehen. Sie sang halblaut eine spanische Romanze. Es war eines dieser Motive, die nur im Süden entstehen können und deren Entstehung gar nicht vorstellbar wäre ohne Sonnenlicht. Die Melodie enthielt auf unerklärliche Weise Licht, wie andere vielleicht Schnee enthalten, und in manchen spürt man Nacht. Als ich ins Zimmer trat, lächelte sie und sagte zu mir:
»Am komischsten ist: ich ahnte gar nicht, dass ich dieses Liedchen kenne. Vor ungefähr vier Jahren habe ich es in einem Konzert gehört, dann noch mal vom Grammophon, und plötzlich stellt sich heraus, dass ich es behalten habe.«
»Vielleicht ist ja tatsächlich«, sagte ich, wobei ich auf ihren Gedanken zu reagieren meinte, »alles letzten Endes nicht so traurig und alles Positive nicht immer und nicht unbedingt eine Illusion.«
»Du bist durchaus warmherzig und kuschelig«, sagte sie ohne jede Verbindung zum Anfang des Gesprächs, »und wenn du nicht ironisierst, sind auch deine Gedanken warmherzig und kuschelig. Dein Denkvermögen behindert dich sehr, denn ohne es wärst du natürlich glücklich.«
Mich interessierte nach wie vor am meisten, was vor ihrer Ankunft in Paris mit ihr geschehen war. Was war es, welches Gefühl war auf Dauer in ihren Augen erstarrt, woher rührte ihre seelische Kälte? Ich wusste zwar aufgrund wiederholter Erfahrung, dass Charme oder Anziehungskraft einer Frau nur so lange auf mich wirkten, als in ihr etwas Unbekanntes blieb, ein unerforschter Raum, der mir die Möglichkeit – oder die Illusion – bot, stets von neuem ihr Bild zu erschaffen und sie mir vorzustellen, wie ich sie gerne gesehen hätte, und wahrscheinlich nicht, wie sie in Wirklichkeit war. Es ging nicht so weit, dass ich Lügen oder Hirngespinste einer offensichtlichen Wahrheit vorgezogen hätte, aber besonders tief gehendes Wissen barg zweifellos eine Gefahr in sich, dazu mochte man genauso wenig zurückkehren wie zu einem gelesenen und verstandenen Buch. Zugleich war der Wunsch nach Wissen vom Gefühl stets untrennbar, keine Argumente konnten das ändern. Ohne diese innere und so deutliche Gefahr wäre mir das Leben womöglich zu flau vorgekommen. Ich war mir sicher, dass über einem bestimmten Zeitabschnitt von Jelena Nikolajewnas Dasein ein Schatten lag, und ich wollte erfahren, wessen Augen ihren unbeweglichen Widerschein in Jelena Nikolajewnas Augen gefunden hatten, wessen Kälte so tief in ihren Körper gedrungen war – und vor allem, wie und weshalb das geschehen war.
Aber so stark mein Wunsch, das zu erfahren, auch war, ich überstürzte nichts, ich hoffte, dazu hätte ich noch Zeit. Dass Jelena Nikolajewna mir möglicherweise inniges Vertrauen entgegenbrachte, spürte ich zum erstenmal, als sie neben mir auf dem Diwan saß und mir plötzlich mit einer unsicheren und wie ungewohnten Bewegung die Hände auf die Schulter legte, und diese Geste, für sie absolut untypisch, war aufschlussreicher als alle Worte. Ich schaute ihr ins Gesicht; aber ihre Augen waren ihrem Körper noch nicht nachgefolgt und bewahrten ihren ruhigen Ausdruck. Und ich überlegte, dass sie schon nicht mehr so war wie noch vor einiger Zeit, vielleicht würde sie auch nie wieder so sein. Manchmal, wenn sie mir etwas Unwesentliches aus dem oder jenem Abschnitt ihres Lebens erzählte, sagte sie »mein damaliger Liebhaber« oder »das war einer meiner
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