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Phantom des Alexander Wolf

Phantom des Alexander Wolf

Titel: Phantom des Alexander Wolf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: G Gasdanow
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Anspannung aller Seelenkräfte, ohne die es nur eine zufällige und episodenhafte Nähe gegeben hätte. Und das hing keinesfalls von übermäßigen Ansprüchen ihrerseits ab, sondern ergab sich ganz von allein und sogar, wie es schien, gegen ihren Willen. Jedenfalls, so war es und konnte offenbar nicht anders sein. Aus ihren wenigen Geständnissen ließ sich unschwer der Schluss ziehen, dass so, mehr oder weniger zutreffend, wohl alle dachten, die sie näher gekannt hatten.
    Wenn ich mich sehr viel später an meine Begegnung mit ihr erinnerte und wie alles angefangen hatte, fiel mir die Rekonstruktion leichter, sobald ich die Augen schloss und ganz bewusst und unrealistisch den Inhalt unseres ersten Gesprächs im Café wie unseren Abschied im Regen wegließ, überhaupt alles, was sich seinem Wesen nach zu einer zusammenhängenden Geschichte gefügt hätte. Deutlicher denn je in meinem Leben spürte ich, dass alles auf eine blinde und dunkle Bewegung hinauslief, auf eine Abfolge von Eindrücken des Gesichts und Gehörs, während sich gleichzeitig und unaufhaltsam eine unbewusste muskuläre Anziehung entwickelte. Johnsons Oberkörper, der zusammengesackte Dubois, meine Finger, wie sie ihre Hand berührten, als ich ihr half, ins Auto zu steigen, überhaupt diese stumme Melodie von Haut und Muskeln, dieser Gegenimpuls ihres Körper, über den sie sich womöglich gar nicht Rechenschaft ablegte – das war die Hauptsache und das bestimmte alles Weitere. Was wusste sie von mir an jenem nebligen Februarabend, weshalb hatte sie danach eine Woche auf meinen Telefonanruf gewartet? Als sie mir das erste Mal zulächelte mit diesem ihrem begierigen, so überraschenden Lächeln, wusste ich bereits, dass sie mein sein würde, sie jedoch wusste es noch früher als ich. Und vorausgegangen war dem natürlich der Einsturz der gesamten abstrakten Welt, in der primitive und rein körperliche Begriffe geringgeschätzt werden und wo eine eigenartige Lebensphilosophie, die von vornherein die vorrangige Bedeutung materialistischer Momente verneint, unverhältnismäßig viel wichtiger ist als sämtliche sinnliche Reaktionen – jener Welt, die sich an jenem Abend im Nu verflüchtigt hatte in dieser wortlosen Muskelbewegung. Als ich das einmal zu Jelena Nikolajewna sagte, erwiderte sie mit einem Lächeln:
    »Vielleicht deshalb, weil wir ohne Philosophie trotz allem leben könnten, wenn aber das andere nicht wäre, worüber du sprichst, drohte die Menschheit in der oder jener Form zu verschwinden.«
    Ich fühlte mich oftmals unfrei in ihrer Gegenwart, besonders in der ersten Zeit. Sehr bald war ich zu der Überzeugung gelangt, dass ihre Reaktionen auf alles, was geschah, nicht so waren wie die der meisten anderen Frauen. Um sie zum Lachen zu bringen, brauchte es zum Beispiel nicht das, was alle zum Lachen brachte; um ihr irgendeine Gefühlsäußerung zu entlocken, musste dafür erst ein besonderer Weg gefunden werden, der dem üblichen nicht glich. Und für diese komplizierte Umgestaltung jener emotionalen Welt, in der sich meine Nähe zu ihr abspielte, benötigte ich viel Zeit und viel Mühe. Aber endlich lebte ich jetzt ein wahres Leben, das nicht mehr, wie es bisher immer gewesen war, zur Hälfte aus Erinnerungen, Bedauern, Vorahnungen und vager Erwartung bestand.
    Wir spazierten beide oft und lange durch Paris; sie kannte es oberflächlich und schlecht. Ich zeigte ihr die wahre Stadt, nicht die, von der die Illustrierten schreiben und die in der Vorstellung der Ausländer, die einmal im Jahr für zwei Wochen herkommen, immer gleich bleibt. Ich zeigte ihr elende Arbeiterviertel, provinzielle Straßen, weit entfernt vom Zentrum, Bauten am Stadtrand, einige Uferstraßen und den Boulevard de Sébastopol um vier Uhr morgens. Ich entsinne mich, mit welcher Verwunderung sie auf die Rue Saint-Louis en l’Île blickte, und tatsächlich war schwer vorstellbar, dass in derselben Stadt, in der es die vom Place de l’Étoile ausgehenden Avenuen gibt, sich auch diese enge und düstere Gasse zwischen zwei Reihen unendlich alter Häuser befindet, durchdrungen vom Moder der Jahrhunderte, gegen den jegliche Zivilisation machtlos ist. Es war schon im späten Frühjahr, da erblickten wir nach der langen Kälte des Winters und nach all seinen traurigen Landschaften, ohne irgendwohin zu fahren, ein anderes Paris: durchsichtige Nächte, fernes Abendrot über dem Montmartre und lange Reihen von Kastanien auf dem Boulevard Arago, auf den wir seltsamerweise

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