Phantom des Alexander Wolf
den Zeigefinger hin und erwiderte:
»Einen.«
»Wieso?«
»Weil wir nach dem ersten Zusammenstoß nicht weitergefahren wären, wir hätten keine Möglichkeit mehr gehabt.«
Auf dem Rückweg weigerte ich mich jedoch kategorisch, sie ans Steuer zu lassen, und als wir fuhren, sagte sie zu mir:
»Ich verstehe dich nicht, du fährst genauso schnell wie ich, wovor hast du also Angst? Findest du, du könntest besser Auto fahren als ich?«
»Nein«, sagte ich, »dessen bin ich mir nicht sicher. Aber ich kenne den Weg, ich weiß, welche Kreuzungen gefährlich sind und welche nicht, du hingegen fährst blindlings.«
Sie sah mich mit einem seltsamen Ausdruck in den Augen an und sagte:
»Blindlings? Ich finde es so interessanter. Überhaupt alles.«
Zu dieser Zeit gelang es mir endlich, die uninteressanten Gelegenheitsarbeiten loszuwerden, und ich erhielt den Auftrag für eine Reihe von Artikeln über Literatur. Einmal kam Jelena Nikolajewna mitten am Tag zu mir, ohne Vorwarnung; es war ihr erster Besuch, und ich war sehr erstaunt, als ich nach einem überraschenden Klingeln die Tür aufsperrte und sie erblickte.
»Guten Tag«, sagte sie und betrachtete das Zimmer, in dem ich arbeitete, »ich wollte dich überrumpeln, vielleicht in jemandes Armen.«
Sie stand am Bücherregal, zog rasch einen Band nach dem anderen hervor und stellte sie wieder zurück. Dann schaute sie mich plötzlich aus starren Augen an, mit einem Ausdruck, den ich noch nie darin gesehen hatte.
»Was hast du?«
»Nichts, mich interessiert bloß ein bestimmtes Buch. Ich wollte es längst lesen und konnte es nirgends finden.«
»Was für ein Buch?«
»Der ›Goldene Esel‹«, sagte sie rasch. »Kann ich es mir ausleihen?«
Mich erstaunte, dass dieses Buch einen solchen Eindruck auf sie machen konnte.
»Natürlich«, sagte ich, »aber es ist nichts Außergewöhnliches.«
»Mein Mann hatte es mir auf der Hochzeitsreise geschenkt, ich fing an zu lesen und ließ es ins Meer fallen. Dann fragte ich überall danach, aber es gab das Buch nicht. Damals war es freilich eine englische Übersetzung, und das ist eine russische. Was schreibst du gerade?«
Ich zeigte ihr meine Arbeit, und sie fragte, ob sie mir helfen könne.
»Ja, natürlich, aber ich befürchte, es wird dich langweilen, in Büchern zu wühlen und Zitate herauszuschreiben.«
»Nein, im Gegenteil, das interessiert mich.«
Sie beharrte so sehr darauf, dass ich einwilligte. Ihre Arbeit bestand darin, Zitate, die ich unterstrichen hatte, abzuschreiben und zu übersetzen; zur Illustrierung der einen oder anderen literarischen These, die ich entwickelte, sollten die Zitate in den Artikel eingehen. Sie erledigte das so schnell und mit solcher Leichtigkeit, als hätte sie sich ihr Leben lang damit abgegeben. Außerdem legte sie Kenntnisse an den Tag, die ich nicht bei ihr vermutet hätte; besonders beschlagen war sie in englischer Literatur.
»Woher hast du das?«, fragte ich. »Nichts als Reisen und Liebesaffären, sagst du immer – wann hast du es geschafft, das alles zu lesen?«
»Wenn dich die Artikel über schurkische Politiker oder über Menschen, die sich gegenseitig ins Gesicht schlagen, oder über zerstückelte Frauen nicht behindert haben, warum hätten mich meine Affären behindern sollen? Viele Affären gehen schnell – ruckzuck und fertig.«
Sie sah mich mit spöttischen Augen an, den Kopf vom Buch gehoben, das sie gerade hielt.
Nun kam sie fast jeden Tag zu mir. Als ich sie einmal umarmte, entzog sie sich und sagte:
»Küssen werden wir uns abends, jetzt wird gearbeitet.«
Sie betätigte sich mit solcher Ernsthaftigkeit, dass es mir unwillkürlich komisch erschien. Aber ich musste ihre Hilfe einfach schätzen; meine Arbeit ging doppelt so schnell voran. Manchmal kam sie morgens und weckte mich, denn aufgrund langjähriger Gewohnheit ging ich immer sehr spät schlafen und stand sehr spät auf. Es war Ende Mai, schon wurde es heiß. Tagsüber arbeitete ich mit ihr, abends dinierten wir zusammen, dann gingen wir meist noch irgendwohin, danach begleitete ich sie nach Hause, blieb fast immer noch da und war bei ihrer Abendtoilette zugegen. Wenn sie aus dem Bad kam, das Gesicht weißer geworden und die Lippen, nun ohne Farbe, blasser geworden, nahm ich ihr den Bademantel ab, legte sie ins Bett und fragte:
»Jetzt brauchst du ein Wiegenlied?«
Wenn ich dann tief in der Nacht von ihr Abschied nahm, auf die Straße trat und mich nach Hause begab, kam mir mein Leben nun
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