Phantom des Alexander Wolf
Laub raschelte an den Bäumen, die erst kürzlich ausgeschlagen hatten und noch nicht schlaff und verstaubt aussahen wie später im Sommer. Die Begegnung mit Wolf ließ mir keine Ruhe, zum hundertsten Mal rekonstruierte ich im Gedächtnis alles, was mit ihm zusammenhing – von dem Moment, als er quer über dem Weg lag, bis zu dem Buch, das er geschrieben hatte, und bis zu meinem Besuch bei dem Londoner Verleger, der einen so schrecklichen Hass gegen ihn empfand. Ich überlegte, dass Wolf – weniger er selbst, vielmehr jeder Gedanke an ihn – für mich unwillkürlich zur Verkörperung all dessen geworden war, was es in meinem Leben an Totem und Traurigem gab. Hinzu kam das Bewusstsein meiner eigenen Schuld: Ich fühlte mich fast wie ein Mörder, der erschüttert ist über das soeben verübte Verbrechen, angesichts der Leiche seines Opfers. Und obschon ich kein Mörder und Wolf keine Leiche war, konnte ich diese Vorstellung nicht loswerden. ›Worin besteht eigentlich meine Schuld vor ihm?‹, fragte ich mich. Und wenngleich jedes Gericht, nehme ich an, mich freigesprochen hätte – ein Militärgericht, weil das Töten Gesetz und Sinn des Krieges ist, ein Zivilgericht, weil ich aus Notwehr gehandelt hatte –, blieb doch etwas unendlich Bedrückendes zurück. Ich hatte ihn nie töten wollen, ich hatte ihn einen Moment vor meinem Schuss erst erblickt. Warum enthielt der Gedanke an ihn solch ein unauslöschliches Bedauern, solch eine unüberwindliche Traurigkeit?
Und ebenso unvermittelt, wie ich eine halbe Stunde vorher im Restaurant begriffen hatte, weshalb Wolf anderen Menschen nicht glich – es lag an meiner Vorstellung von seiner Phantomhaftigkeit und der zufälligen Übereinstimmung seines Äußeren mit dieser Vorstellung –, so wurde mir jetzt klar, aus welchem Grund ich mir einer nicht existierenden Schuld bewusst war. Es war die Idee des Tötens, die mit gebieterischer Begierde meine Phantasie so oft in Beschlag gehalten hatte. Sie glich vielleicht dem letzten Widerschein eines erlöschenden Feuers, der kurzen Rückkehr zu einem uralten Instinkt; es war – auch das nur vielleicht – ein eigentümliches Aufblitzen des Vererbungsgesetzes, wusste ich doch, dass ich viele Generationen von Vorfahren hatte, für die Töten und Rache eine unumstößliche und verpflichtende Tradition gewesen waren. Und dieses Gemisch aus Versuchung und Abscheu, diese unbewegliche Bereitschaft zum Verbrechen hatten offenbar immer existiert in mir, und natürlich war diese Einsicht die Ursache für das niederdrückende Bedauern, das ich jetzt empfand. Der Gedanke an Wolf war die stärkste Erinnerung an diese Eigentümlichkeit, an diese, rein theoretisch, verbrecherische Einzelheit in der Biographie meiner Seele. Wenn Wolf nicht existiert hätte, wäre das womöglich im Bereich meiner Einbildungskraft geblieben und hätte ich womöglich die tröstliche Illusion gehegt, alles sei nur ein Ausfluss meiner Phantasie, und wenn sich so etwas in Wirklichkeit ereignete, würde ich genügend seelische Kraft in mir finden, um mich von der letzten und nicht mehr ungeschehen zu machenden Bewegung abzuhalten; Wolfs Existenz hatte mir diese eitle Illusion genommen. Außerdem, wenn dieser Schuss schon mir so teuer zu stehen kam, mussten sich seine Folgen wohl auch auf Wolfs ganzes Leben ausgewirkt haben. Als ich noch einmal alles, was Wosnessenski von ihm erzählt hatte, zum Erscheinungsbild des Verfassers von »I’ll Come Tomorrow« in Beziehung setzte, dachte ich, wenn nicht dieser unvollendete Totschlag, hätte Sascha Wolf vielleicht ein glückliches Leben vor sich gehabt und wären ihm jene Trostlosigkeiten unbekannt geblieben, von denen Alexander Wolfs Buch handelte. Ich dachte darüber nach, und mir fiel – zum wievielten Mal schon? – der Ausspruch von Jelena Nikolajewnas Londoner Liebhaber ein:
»Die Abfolge der Ereignisse in jedem Menschenleben ist wunderbar.«
Ja, natürlich; und wenn ich erst anfing, in das komplizierte Gemenge so unterschiedlicher und gleichzeitiger Erscheinungen als erklärendes Element das übliche Gesetz von Ursache und Wirkung einzuführen, so kam die Wunderbarkeit des Geschehenden noch deutlicher zum Vorschein, und es war, als ob aus einer einzigen Bewegung von mir eine ganze Welt erwachsen wäre. Und wenn ich annahm, meine ausgestreckte Hand mit der Pistole und die Kugel, die Wolfs Brust durchschlug, seien der Beginn einer langen Reihe von Ereignissen gewesen, so wäre aus der Zeitspanne, so kurz wie ein
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