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Phantom des Alexander Wolf

Phantom des Alexander Wolf

Titel: Phantom des Alexander Wolf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: G Gasdanow
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Lebensabschnitten, wenn mein Dasein eine besonders große Anspannung der seelischen Kräfte erforderte, rückte alles eine Zeitlang von mir weg – um dann erneut zurückzukehren.
    Ich legte den halben Weg zu Fuß zurück, dann hielt ich ein vorüberfahrendes Taxi an, und nach Hause zurückgekehrt, schlief ich wie ein Toter.
    Am nächsten Tag war das Wetter wunderbar, ich erinnere mich, Sonne und blauer Himmel mit weißen Federwolken. Die Arbeit ging mir leicht von der Hand, innerhalb weniger Stunden schrieb ich einen großen Artikel, diesmal nicht über ein Verbrechen und nicht über einen Bankrott, sondern über gewisse Eigentümlichkeiten Maupassants. Als ich abends bei Jelena Nikolajewna war, sagte sie mir, sie fühle sich um Jahre verjüngt; offenbar ließ sie sich, ebenso wie ich, erneut von der unwillkürlichen Bewegung treiben, wie das am Anfang gewesen war, am Tag meines ersten Besuchs bei ihr und im Verlauf der Woche, die ihm vorausgegangen war.
    Einmal sagte sie, nachdem sie einen halben Tag mit mir gearbeitet hatte, sie sei ins Theater eingeladen und wir würden uns erst wieder am nächsten Morgen sehen. »Ich werde dich in aller Herrgottsfrühe wecken«, sagte sie im Aufbrechen. Ich wusste, sie ging mit einer alten Freundin ins Theater, der sie zufällig in Paris begegnet war. Zwei- oder dreimal hatte ich diese gesehen, sie war eine üppige Frau, ziemlich schön; doch wenn ich sie anblickte, bekam ich jedesmal Appetit, unabhängig davon, wann es sich zutrug. Selbst wenn es unmittelbar nach einem reichhaltigen Dejeuner geschah, rief ihr Anblick trotzdem die Vorstellung von Essen hervor, und wenn ich die Augen schloss, schwebten mir Schinkenkeulen, Stör, Lachs oder Hummer vor; diese Frau trug eine ganze Welt gastronomischer Visionen mit sich und stimulierte sie, ohne es zu wissen. Ich konnte nie zu einem Ende gelangen, wenn ich analysierte, warum das so war; und da wir keine gemeinsamen Bekannten hatten, erfuhr ich auch nicht, ob andere Menschen diese Vorstellung teilten oder ob sie Ausfluss meiner persönlichen und desto unverständlicheren Perversion war. Die Frau war mit einem Franzosen verheiratet, einem sehr netten und gesichtslosen Mann.
    »Wenn du möchtest, komm vorbei, Anny wird dir zu essen geben«, sagte Jelena Nikolajewna.
    Aber ich lehnte ab – und um halb zehn Uhr abends ging ich ins russische Restaurant. Unterwegs kamen mir die Zigeunerromanzen und Wosnessenski in den Sinn. Ich trat ein, und sogleich erblickte ich ihn. Er war nicht allein; an seinem Tisch saß, mit dem Rücken zu mir, ein Mann in dunkelgrauem Anzug; seine blonden Haare überdeckten nicht ganz die beginnende Glatze. Wosnessenski winkte mir und erhob sich von seinem Platz, hieß mich nähertreten. Als ich vor ihm stand, sagte er:
    »Ich freue mich aufrichtig, Sie zu sehen, lieber Freund. Darf ich bekanntmachen: Sascha Wolf in eigener Person, Alexander Andrejewitsch, gerade aus London eingetroffen. Bitte, noch eine Karaffine, meine Hübsche«, sagte er zu der Kellnerin, die mit mir an den Tisch getreten war, »lassen Sie uns nicht darben, Kindchen.«
    Alexander Wolf wandte den Kopf, und ich erblickte sein Gesicht. Er sah noch gut aus, war wohl um die vierzig. Wenn ich nicht gewusst hätte, dass er das war, hätte ich ihn vielleicht gar nicht weiter beachtet. Aber weil ich es wusste, erschien es mir unzweifelhaft, dass ich jenes seit langem und schrecklich bekannte Gesicht vor mir sah, das mich in der Erinnerung so viele Jahre verfolgt hatte. Er hatte eine sehr weiße Haut und unbewegliche graue Augen.
    »Ich habe ihm berichtet von Ihnen«, sagte Wosnessenski. »Denn, Sascha, wäre er nicht gewesen, hätte ich nie erfahren, was du in deinem Buch geschrieben hast. Setzen Sie sich, lieber Freund, trinken wir ein Gläschen, wir sind ja, Gott sei Dank, Christenmenschen.«
    Ich fand keine Worte, um mit Wolf ein Gespräch anzufangen. So lange Zeit hatte ich an eine Begegnung mit ihm gedacht, so viele Dinge wollte ich ihm sagen, dass ich nicht wusste, womit beginnen. Außerdem passten die Anwesenheit Wosnessenskis, die Restaurant-Atmosphäre und der getrunkene Wodka nicht zu dem Gespräch, an das ich so viele Male gedacht hatte. Alexander Wolf redete wenig und begnügte sich mit kurzen Repliken. Dafür verstummte Wosnessenski keinen Augenblick. Kaum hatte ich mich gesetzt, trank er das nächste Gläschen und schaute Wolf an, trunken und unverwandt.
    »Sascha, mein Freund«, sagte er ungewöhnlich ausdrucksvoll, »nun überleg doch

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