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Phantom des Alexander Wolf

Phantom des Alexander Wolf

Titel: Phantom des Alexander Wolf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: G Gasdanow
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voneinander bewegten, wie wenn es in einem schauderhaften und schlagartig lebendig gewordenen Anatomischen Theater vor sich ginge. Danach gab es wieder Musik, es spielten Hawaii-Gitarren, und Wosnessenski hielt ein Glas mit einer weißlich-grünen Flüssigkeit in der Hand und sagte:
    »Wer einmal auf Tahiti war, will unbedingt zurückkehren, um dort zu sterben.«
    Er nahm mit seinem satten Bariton die Melodie auf, dann fügte er hinzu:
    »Die Frau des Nordens, was ist das? Ein Sonnenreflex auf Eis.«
    Seine Trunkenheit war von gutmütig erotischer Art, er trank auf das Wohl aller seiner kurzfristigen Gesprächspartnerinnen und war, so schien es, vollkommen glücklich.
    Dann wurden diese exotischen Bilder von eher europäischen Lustbarkeiten abgelöst, es sangen ungarische Zigeuner und traten französische Artisten und Artistinnen auf. Als wir aus einem Cabaret irgendwo in der Nähe des Boulevard de Rochechouart auf die Straße traten, war dort eine Schlägerei zwischen verdächtigen Subjekten im Gange, auch Frauen beteiligten sich, sie schrien mit überkippend durchdringender Stimme. Ich stand neben Wolf; die Straßenlaterne beleuchtete hell sein weißes Gesicht, darauf lag, wie mir schien, ein Ausdruck ruhiger Verzweiflung. Ich merkte, dass ich von abseits, aus fernen Augen, auf diese ungezähmte und mir fremde Menge schaute, ich hatte sogar den Eindruck, als hörte ich unverständliches Geschrei in einer unbekannten Sprache, obwohl ich natürlich alle Schattierungen und alle Wörter dieses Argots der Zuhälter und Prostituierten kannte. Ich empfand zermürbenden Abscheu, der unverständlicherweise mit starkem Interesse an der Rauferei einherging. Diese wurde im übrigen bald von einem ganzen Trupp Polizisten unterbunden, sie luden zwei Dutzend blutbesudelter Frauen und Männer auf drei riesige Lastwagen und fuhren rasch davon. Auf dem Trottoir blieben ein paar halb zertrampelte Mützen zurück und ein rosa Büstenhalter, den eine der Beteiligten an der Straßenschlacht wer weiß wie verloren hatte. Und obwohl diese Einzelheiten, sollte man meinen, allem, wovon ich Zeuge war, besondere Überzeugungskraft verliehen, konnte ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass diesem nächtlichen Spaziergang etwas Phantastisches anhaftete, wie wenn ich, während meine Einbildungskraft wieder einmal stillschwieg, durch eine fremde und unbekannte Stadt wanderte, Seite an Seite mit einem Phantom aus meinem langdauernden, ununterbrochenen Schlaf.
    Schon begann die Morgendämmerung; wir kehrten zu Fuß nach Hause zurück. In einem trüben Lichtgemisch von Laternen und Dämmerung schritten wir durch die Straßen, die vom Montmartre steil hinabführten. Nach dieser lärmigen und ermüdenden Nacht fiel es mir schwer, Wolf bei dem zu folgen, was er nun sagte. Aber einiges merkte ich mir. Er war ein interessanter Gesprächspartner, wusste viel, hatte auf alles eine eigenwillige Sicht, und mir wurde klar, warum gerade dieser Mann ein solches Buch hatte schreiben können. Ich gewann in dieser Nacht den Eindruck, ihm sei im Grunde alles auf der Welt gleichgültig; er sprach über alles, wie wenn es ihn persönlich nicht beträfe. Seine Philosophie zeichnete sich durch das Fehlen von Illusionen aus: Das persönliche Geschick sei unwichtig, wir trügen immer unseren Tod mit uns, das heißt den Abbruch – meist einen jähen – des gewohnten Rhythmus; jeden Tag entstünden Dutzende von Welten und stürben Dutzende anderer, und durch diese unsichtbaren kosmischen Katastrophen gingen wir und meinten fälschlicherweise, jenes nicht sehr große Stück Raum, das wir sehen, sei eine Reproduktion der Welt. Trotzdem glaubte er an ein schwer zu fassendes System allgemeiner Gesetze, das jedoch weit entfernt war von jeglicher idyllischen Harmonie; was uns als blinder Zufall erscheine, sei meist etwas Zwangsläufiges. Er war der Ansicht, dass es außerhalb fiktiver und willkürlicher, fast mathematischer Gebäude keine Logik gebe; dass Tod und Glück Begriffe ein und derselben Kategorie seien, da der eine wie der andere die Idee der Unbeweglichkeit in sich trage.
    »Und die Tausende glücklicher Existenzen?«
    »Ja, Menschen, die wie blinde Welpen leben.«
    »Nicht unbedingt, es kann auch anders sein.«
    »Wenn wir über jene grimmige und traurige Kühnheit verfügen, die den Menschen veranlasst, mit offenen Augen zu leben, können Sie dann etwa glücklich sein? Es ist doch ganz unvorstellbar, dass Menschen, die wir für die bemerkenswertesten halten,

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