Pharmakon
der schlimmste Monat in New York. Auch wenn offiziell der Frühling bald beginnen würde, hielt der Winter die Stadt doch fest in seinem Griff.
Indem sie ihren Mantel fester um sich zog, machte sie sich auf den Weg zur Siebten Avenue. Unter dem Mantel war sie in einen alten Leotard, eine Strumpfhose, Beinwärmer und einen uralten grauen Pullover gekleidet, dessen Ärmel sie abgeschnitten hatte. In Wirklichkeit wußte Jennifer nicht, ob sie tanzen würde, da sie sich vorgenommen hatte, Jason heute mitzuteilen, sie sei schwanger. Sie hoffte, er werde ihr erlauben, noch ein paar Monate mit der Truppe weiterzumachen. Sie und Adam brauchten das Geld so dringend, und der Gedanke, Adam könne das Medizinstudium aufgeben, ängstigte sie sehr. Wenn er nur nicht so halsstarrig wäre, Hilfe von ihren Eltern anzunehmen.
Auf der Siebten Avenue wandte sich Jennifer nach Süden und kämpfte gegen die Menschenmassen an, die ihr zu dieser Stunde des Stoßverkehrs entgegenkam. Als sie an einer Ampel stehenbleiben mußte, fragte sie sich, wie Adam wohl von seinem Vater empfangen würde. Als sie an diesem Morgen aufgestanden war, hatte sie einen Zettel gefunden, auf dem er ihr mitteilte, er sei nach Washington gereist. Wenn der alte Bastard ihm nur helfen würde, dachte Jennifer; das würde alle Probleme lösen. Ja, Adam wäre wahrscheinlich sogar bereit, Hilfe von ihren Eltern anzunehmen, wenn Dr. Schonberg ihnen Unterstützung anbieten würde.
Sie überquerte die Siebte Avenue und gelangte nun in das eigentliche Greenwich Village. Ein paar Minuten später ging sie auf den Eingang vom Cafe Cezanne zu, sprang die drei Stufen mit einem einzigen Satz hinunter und drückte die geschliffene Glastüre auf. Drinnen war die Luft schwer vom Rauch der Gauloise-Zigaretten und dem Geruch von Kaffee. Wie gewöhnlich war das Lokal gerammelt voll.
Auf den Zehenspitzen versuchte Jennifer die Menschenmenge nach einem bekannten Gesicht abzusuchen. Auf halbem Weg in den engen Raum hinein sah sie eine Gestalt, die ihr zuwinkte. Es war Candy Harley, die eine der Jason Conrad Dancers gewesen war, jetzt aber Verwaltungsarbeiten erledigte. Gleich neben ihr stand Cheryl Tedesco, die Sekretärin der Truppe, die in ihrem weißen Sportanzug bleicher als gewöhnlich aussah. Es war eine Gewohnheit der drei, zusammen vor der Probe noch einen Kaffee zu trinken.
Jennifer arbeitete sich aus ihrem Mantel heraus, rollte ihn zu einem großen Ball zusammen und legte ihn auf den Boden an die Wand. Obendrauf ließ sie ihren leeren Kleidersack plumpsen. Als sie sich endlich setzte, war Peter, der österreichische Kellner, bereits am Tisch und fragte, ob sie das Gewöhnliche wünsche. Sie sagte ja. Cappuccino und Croissants mit Butter und Honig.
Nachdem sie sich gesetzt hatte, beugte sich Candy vor und sagte: »Wir haben gute und schlechte Nachrichten. Was willst du zuerst hören?«
Jennifer blickte zwischen den beiden Frauen hin und her. Sie war nicht für Späße aufgelegt, aber Cheryl starrte in ihre Expresso-Tasse, als ob sie ihren besten Freund verloren hätte. Jennifer kannte sie als eine recht melancholische Zwanzigjährige mit einem Gewichtsproblem, das in letzter Zeit schlimmer zu werden schien. Sie hatte koboldhafte Gesichtszüge mit einer kleinen, nach oben gebogenen Nase und großen Augen. Im Gegensatz dazu war Candy auffallend makellos in ihrer Erscheinung mit ihrem blonden Haar, das sie zu einem ordentlichen französischen Zopf geflochten hatte.
»Vielleicht solltest du mir die gute Nachricht zuerst sagen«, meinte Jennifer unsicher.
»Man hat uns einen CBS-Auftritt angeboten«, sagte Candy. »Die Jason Conrad Dancers gehen großen Zeiten entgegen.«
Jennifer versuchte, freudig erregt zu erscheinen, obgleich sie erkannte, daß sie für Fernsehaufnahmen dann wahrscheinlich zu weit in ihrer Schwangerschaft vorgeschritten sein würde. »Das ist ja wunderbar!« zwang sie sich, mit Enthusiasmus zu sagen. »Wann soll es denn soweit sein?«
»Wir wissen das genaue Datum noch nicht; die Show soll aber in ein paar Monaten aufgezeichnet werden.«
»Und was ist die schlechte Nachricht?« fragte Jennifer, um das Thema zu wechseln.
»Die schlechte Nachricht ist, daß Cheryl vier Monate schwanger ist und daß sie sich morgen einer Abtreibung unterziehen muß«, sagte Candy schnell.
Jennifer wandte sich wieder Cheryl zu, die immer noch in ihren Expresso starrte und versuchte, die Tränen zu unterdrücken.
»Niemand hat das gewußt«, fügte Candy hinzu. »Cheryl
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