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über die Zeit hinwegträgt. Alle positiven
Merkmale der ästhetischen Lebensform – sinnlicher Genuss, Raffinesse, das »Interessante« – werden erst in der Ehe verwirklicht,
indem ihnen innerhalb einer sozialen Bindung eine dauerhafte Gestalt gegeben wird. In dem Eingehen einer solchen erotischen
und zugleich sozialen Bindung entsteht eine Identität, die Vergangenheit und Zukunft mit einbezieht.
Diese Identität entsteht aber nicht einfach so, sie beruht auf einer Wahl. Mit dem Begriff der »Wahl« ist man im Zentrum der
Philosophie Kierkegaards angekommen. Kierkegaards »Wahl« ist keine beliebige »Auswahl«, sondern das Ergreifen dessen, was
in einem selbst schon angelegt ist. Erst indem der Mensch wählt, verwirklicht er sich, das heißt, er nimmt sich als Person
mit allen dazugehörigen |146| Umständen an. Dazu zählen nicht zuletzt die Bindungen zu anderen Menschen, die mit dieser Wahl erst als Mitmenschen anerkannt
und nicht mehr nur als Objekte betrachtet werden. Dazu gehören auch die eigene Vergangenheit und der Entwurf auf die Zukunft
hin. Mit der Wahl tritt der Mensch bewusst in die Zeit ein, er entwickelt ein Verhältnis zur Geschichte.
Den Prozess des Zustandekommens einer solchen Wahl beschreibt Kierkegaard wie ein religiöses Erweckungserlebnis. Grundlage
sind die Stimmungen der Schwermut, Trauer und Verzweiflung, die in Kierkegaards eigenem Leben eine große Rolle gespielt haben
und mit denen auch der Ästhetiker in bestimmten Phasen seines Lebens konfrontiert wird. Gemeint sind aber nicht einfache Stimmungszustände,
sondern die bei jedem Menschen auftretenden Grundbefindlichkeiten, die aufbrechen, wenn ihm bestimmte grundlegende Tatsachen
des Lebens wie Sterblichkeit oder Sinnlosigkeit plötzlich vor Augen stehen. Der Mensch sieht sich dann vor die Aufgabe gestellt,
sich anzunehmen und etwas aus seinem Leben zu machen. In der Schwermut erwacht die Möglichkeit eines geistig bestimmten, das
heißt bewusst ergriffenen, Lebens lediglich als unbestimmte Ahnung, in der Verzweiflung dagegen bricht sich diese Ahnung als
Stimme des Gewissens Bahn.
In der Wahl wird sich der Mensch seiner Freiheit bewusst, der Freiheit, dem Leben verantwortlich eine Richtung und eine Form
zu geben. Darin liegt der Abschied von einem Leben, das sich »wahllos« dem Genuss überlässt. Für Kierkegaard ist das Bewusstsein
des Wählen-Könnens, das Ergreifen der Wahlmöglichkeit als Ergreifen von Freiheit und Verantwortung wichtiger als der jeweilige
Inhalt der Wahl.
Damit erhält sein »Entweder – Oder« seine eigentliche Bedeutung. Schien es zuerst, als handle es sich um die Wahl zwischen zwei Formen der Selbstverwirklichung,
so geht es jetzt um Wahl oder Nichtwahl, um Selbstverwirklichung oder Nichtverwirklichung des Lebens. »Entweder – Oder« heißt jetzt: Entweder man lässt sich auf die Wahl ein wie der Ethiker und schafft somit ein Selbst, eine Identität,
oder man vermeidet die Wahl wie der Ästhetiker und lebt einfach |147| nur so dahin, von Augenblick zu Augenblick. Erst mit der Wahl, erst mit der ethischen Existenz tritt man in das eigentliche
Leben ein, indem man Verantwortung übernimmt und als Person für sein Handeln einsteht. »Eine ästhetische Wahl«, so spricht
B, ». .. ist keine Wahl. Überhaupt ist das Wählen ein eigentlicher und stringenter Ausdruck für das Ethische.«
Mit diesem Begriff der »Wahl« hat Kierkegaard noch einmal betont, dass es für ein selbstbestimmtes Leben nicht genügt, die
Partitur der Lebensformen zu kennen. Man muss auch seine eigene Stimme zur Aufführung bringen. Als Theologe hat sich sein
Blick in
Entweder – Oder
schon über die zwischenmenschliche Bindung der Ehe hinaus auf die Bindung des Menschen an Gott gerichtet. Bereits hier gibt
er seinen Schlüsselbegriffen wie Freiheit und Wahl eine religiöse Bedeutung.
Die Offenheit und Unbestimmtheit der menschlichen Existenz, die sich in der Freiheit ausdrückt, ist für ihn eng mit der religiösen
Lehre von der Erbsünde verknüpft, die die menschliche Natur von Gott entfernt hat. In der Annahme der Freiheit, in der bewussten
Wahl und in dem Ergreifen einer eigenen Identität hat der Mensch die Möglichkeit, die Beziehung zu Gott zu erneuern. In seinen
späteren Schriften hat Kierkegaard der ästhetischen und ethischen Lebensform die religiöse als die höchste und schwierigste
Lebensform hinzugefügt. Sie deutet sich hier schon im Pseudonym
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