Philosophenportal
Kierkegaard ein neues religiöses Bewusstsein wecken. Und während Sokrates die Menschen im Streitgespräch zu erreichen
versuchte, bedient sich Kierkegaard der Literatur. Dabei macht er einen grundsätzlichen Unterschied: In allen Schriften, in
denen er in direkter Weise wie ein Prediger zum Publikum spricht – in seinen christlichen Schriften –, schreibt er unter eigenem Namen. Dort dagegen, wo er indirekte Aussagen macht, das heißt spielerisch-literarisch Lebensmöglichkeiten
vorführt, benutzt Kierkegaard Pseudonyme.
Entweder – Oder
gehört zur letzteren Gattung. Das Buch ist der |140| erste Versuch Kierkegaards, seine eigenen Lebensprobleme und Lebensexperimente literarisch zu verarbeiten und daraus eine
Philosophie der Existenz zu entwickeln. Seine Zeit als Lebemann, besonders aber die gescheiterte Beziehung zu Regine lieferten
ihm das Material, das er in dichterischer Form bearbeitet und philosophisch deutet. Seinem neuen Selbstverständnis als »Einzelner«
und Außenseiter gibt er in dem Herausgeberpseudonym »Victor Eremita – Victor der Einsiedler« Ausdruck.
Entweder – Oder
entstand in elf Monaten, von Dezember 1841 bis November 1842. Eine ganz wichtige Rolle im Prozess des Schreibens spielte ein mehrmonatiger Aufenthalt in Berlin.
Kurz nach der Trennung von Regine, am 25. Oktober 1841, verlässt Kierkegaard Kopenhagen. In Berlin angekommen, nimmt er ein Zimmer nahe dem Gendarmenmarkt, wo er zurückgezogen
lebt. Seine Wege führen ihn lediglich ins Theater oder an die Universität. Er hört die Vorlesungen Schellings, besucht einen
Deutschkurs und verbringt Teile des Tages mit Schreiben. Hier entsteht nun der größte Teil des Buches. Als Kierkegaard hört,
Regine sei erkrankt, entschließt er sich im März 1842 zur vorzeitigen Rückkehr nach Kopenhagen. Dort schließt er das Manuskript
ab.
Nicht nur diese vorzeitige Rückkehr zeigt, dass Kierkegaard weit davon entfernt ist, die Beziehung zu Regine hinter sich gelassen
zu haben. Im Gegenteil: Sein Denken und seine Tagebucheintragungen beschäftigen sich unablässig mit ihr. In Regine sieht er
auch die besondere Adressatin des Buches. Er will schreibend versuchen, sie »aus dem Verhältnis herauszulösen«, das heißt
die Beziehung zu ihr als ein bloßes Lebensexperiment darzustellen und sich selbst damit in ein moralisch zweifelhaftes Licht
zu rücken, um ihr die Trennung zu erleichtern.
Kierkegaard präsentiert in
Entweder – Oder
zwei grundsätzlich verschiedene Lebensformen: In der »ästhetischen« Lebensform, die in vielfältigen Variationen in den Papieren
von A beschrieben wird, geht es vor allem um Genuss, entweder in einer einfachen sinnlichen oder in einer verfeinerten geistigen
Form. Beide Male spielt die Erotik als Teil dieses Genusses eine große Rolle. Alles wird unter dem |141| Gesichtspunkt betrachtet, ob es »interessant« ist und das Lebensgefühl steigert. Kierkegaard nennt diese Lebensform »ästhetisch«,
weil sie große Ähnlichkeit mit der Art hat, mit der wir mit Kunst umgehen. Auch die Kunst ist für uns ein Gegenstand der genussvollen,
sinnlichen und geistigen Anregung. Der Ästhetiker lebt für die Gegenwart, Festlegungen für die Zukunft oder die Beschäftigung
mit der eigenen Vergangenheit sind für ihn ohne Reiz.
Dem gegenüber steht die im zweiten Teil von B präsentierte »ethische« Lebensform. Sie ist nicht nur auf eine gegenwärtige
Erfüllung, sondern auf die Zukunft hin, auf Dauer angelegt und zeichnet sich dadurch aus, dass der Mensch auch in verpflichtende
Beziehungen mit anderen Menschen tritt. Als vornehmliches Beispiel einer ethischen Lebensform nennt Kierkegaard in
Entweder – Oder
die Ehe. Sie scheint auf den ersten Blick langweiliger und unspektakulärer, doch sie vermag dem Wechselspiel des Genusslebens
eine einheitliche »Form« des Lebens entgegenzusetzen und damit eine Art Identität des Menschen herzustellen. »Entweder – Oder« heißt also zunächst:
Entweder
man entscheidet sich für die ästhetische
oder
für die ethische Lebensweise.
Der Unterschied zwischen beiden Teilen wird auch in ihrer Zusammensetzung und Gestaltung deutlich. Die Papiere von A im ersten
Teil enthalten acht sehr unterschiedliche Texte, die bewusst dichterisch, also mit ästhetischem Anspruch komponiert sind.
Während der erste Text aus einer Sammlung tagebuchartiger Kurzprosa besteht, beinhaltet der zweite eine Interpretation der
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