Philosophische Anthropologie
Übereinstimmungen in der körperlichen Bildung und den Entwicklungsstufen des Organismus fordern geradezu die These einer gemeinsamen Abstammung. »Folgerecht sollten [51] wir offen die Gemeinsamkeit ihrer Abstammung zugeben: irgend eine andere Ansicht sich zu bilden, hieße anzunehmen, daß unser eigener Bau und der sämtlicher Thiere um uns nur eine Falle sei, um unser Urtheil gefangen zu nehmen. […] Es ist nur unser natürliches Vorurtheil und jene Anmaßung, die unsere Vorfahren erklären hieß, daß sie von Halbgöttern abstammten, welche uns gegen diese Schlußfolgerung einnehmen.« (Darwin 1875, 28)
Der Beweis einer gemeinsamen Abstammung kann nur gelingen, wenn das Wirken der natürlichen Auswahl auch im Hinblick auf die Gattung Mensch nachweisbar ist. Auch hier betont Darwin nachdrücklich, dass die natürliche Auswahl keine aktive, schöpferische und gerichtete Kraft, sondern ein Entwicklungsmechanismus ist – nicht der einzige, allerdings der wirksamste. (Darwin 1875, 30) Damit ist keine Aussage über die Ursachen und Gesetzmäßigkeiten dieser Entwicklung getroffen. Vielmehr ist auf diese Weise der Mensch unter die Bedingung des »state of nature« gestellt, der jeder Organismus unterliegt: Im Ringen um seine Existenz strebt auch der Mensch seit den Anfängen seiner Entwicklungsgeschichte danach, sich im Leben zu erhalten.
Das radikale Moment der darwinschen Perspektive liegt in der einfachen Durchführung des Mensch-Tier-Vergleichs. Alle Differenzen zwischen Mensch und Tier werden von ihm in der Perspektive einer Transformation einer tierischen zu einer spezifisch menschlichen Fähigkeit verhandelt. Dies bezieht sich auf die Entwicklung einer höheren Verstandestätigkeit aus Formen niederer Intelligenz, einer artikulierten Sprache aus einer Lautsprache und moralischer wie auch religiöser Empfindungen aus einfachem Instinktverhalten und so weiter. Darwins Fazit ist von durchschlagender Kraft: »So groß nun auch nichtsdestoweniger die Verschiedenheit an Geist zwischen dem Menschen und den höheren Thieren sein mag, so ist sie doch sicher nur eine Verschiedenheit des Grads und nicht der Art.« (Darwin 1875, 139) Grundsätzlich gilt also, dass die Differenzen innerhalb des Tierreichs [52] größer sind als die Differenzen zwischen den höchsten Tieren und dem Menschen. Vom Standpunkt der beobachtenden Wissenschaften ist diese Konsequenz nicht zurückzuweisen. Es kommt aber darauf an, welche weitergehenden Schlussfolgerungen aus ihr gezogen werden.
Im Hinblick auf eine Zuspitzung der darwinschen Theoriekonzepte gilt Ernst Haeckel als Kronzeuge. Haeckel ist ein vehementer Vertreter des »Darwinismus« als einer Weltanschauung, die er in Deutschland propagiert hat. Im Grunde genommen fokussiert er die darwinsche Theorie auf den Aspekt der gemeinsamen Abstammung aller Lebensformen von einigen Urformen und missversteht das Prinzip der natürlichen Auswahl. Von übergeordneten kausalen Zusammenhängen, von einem einheitlichen Prozess der Entwicklung oder gar von einer Finalität dieses Prozesses ist nämlich, wie wir gesehen haben, bei Darwin keine Rede. Bei Haeckel werden diese Momente jedoch zu Grundüberzeugungen. Dieses schwerwiegende Missverständnis führt ihn zu der Ansicht, unmittelbar vor der Lösung der anthropologischen Grundproblematik, also vor der Beantwortung der Frage »Was ist der Mensch?« zu stehen.
In seiner Abhandlung zur
Anthropogenie oder Entwicklungsgeschichte des Menschen
aus dem Jahre 1874 entwickelt Haeckel das Konzept eines »universalen Substanzgesetzes«. Hier zeigt sich, dass er weder den darwinschen Entwicklungsgedanken noch den Sinn des Theorems der natürlichen Auswahl akzeptiert. Es ist nämlich zweierlei, ob wie bei Darwin auf der Basis vergleichender Anatomie und gestützt durch die Paläontologie die Entstehung des Menschen im Kontext einer tierischen Ahnenreihe bloß beschrieben wird oder ob von Haeckel erklärt wird, dass die Naturentwicklung insgesamt und in ihr der Prozess der Menschwerdung die Konsequenz notwendig wirkender und gerichteter Kraftimpulse als Ausfluss eines universalen Substanzgesetzes ist.
Im letzteren Fall wird, wie Haeckel dies deutlich macht, die Notwendigkeit einer bestimmten Naturentwicklung [53] behauptet. Ein von Haeckel publizierter Vortragszyklus trägt denn auch den Titel
Natürliche Schöpfungsgeschichte
. In diesen populären Vorträgen zeigt er, dass das universale Substanzgesetz zu einem rigorosen Determinismus von Naturentwicklung
Weitere Kostenlose Bücher