Philosophische Anthropologie
führt und in einen philosophischen Monismus mündet. Auf dieser Grundlage verkündet er in seiner auflagenstärksten Schrift
Die Welträtsel
(1899) die Lösung der anthropologischen Rätselfrage. Versteht man nämlich Entwicklung als Bewegung einer Substanz durch ihre determinierten Gestaltungen hindurch, dann erhält man »zugleich den Schlüssel zur ›Frage aller Fragen‹ […], zu dem großen Welträtsel von der ›Stellung des Menschen in der Natur‹ und von seiner natürlichen Entstehung« (Haeckel 1909, 3). Der Mensch ist dann nichts anderes als die Summe seiner Entwicklungsmomente, er ist nicht mehr als ein »arrivierter Affe«. Seine Selbstbestimmung hat sich an seiner Herkunft zu bemessen. Für alles, was er ist, gibt es nach Haeckel ein entwicklungsgeschichtliches Maß.
Lebensphilosophie
Rudolf Eucken (1846–1926), einer der populärsten Vertreter der Lebensphilosophie, hat in seiner
Geschichte und Kritik der Grundbegriffe der Gegenwart
(1878) die Leistungsfähigkeit der darwinschen Naturbeschreibung unterstrichen und zugleich kritisch ihre Begrenzung herausgestellt: »Wer wollte […] der mechanischen Erklärung (im philosophischen Sinne) ihre Bedeutung absprechen, aber je genauer wir prüfen, desto mehr stellt sich heraus, daß sie überall einen Grund voraussetzt, den sie nicht zu begreifen vermag. Die Form des Lebendigen mag daher mehr und mehr mechanisch verstanden werden, für die mechanische Erklärung des Lebens ist damit nicht das mindeste gewonnen.« (Eucken 1878, 168f.) Eucken nennt ein grundsätzliches Argument, das in der Lebensphilosophie – bei Nietzsche, Dilthey, [54] Bergson und Simmel – variiert wird. Trotz ihres unbestreitbaren Erfolgs hat die naturwissenschaftliche Forschung wenig zur Erklärung und zum Verstehen des Lebens beigetragen. Es ist geradezu umgekehrt: Aufgrund der radikalen Zurückstellung des Menschen in die Natur hat sie ein Problem aufgeworfen, das sie nicht zu bewältigen vermag. Kann nämlich der Mensch, so ist zu fragen, den Anspruch aufrechterhalten, mehr zu sein als ein »homo naturalis«, ein bloßes Glied in der Kette der Lebewesen? Der Lebensphilosophie um 1900 kommt das Verdienst zu, unmissverständlich ausgesprochen zu haben, dass von einem philosophischen Standpunkt aus bereits diese Fragestellung eine Zumutung ist, weil zum Menschsein ein artikulierter Anspruch, das je eigene Leben verstehen zu wollen, gehört.
An prominenter Stelle muss Friedrich Nietzsche (1844–1900) als Stichwortgeber der Lebensphilosophie als einer philosophischen Gegenbewegung zum Darwinismus genannt werden. Zwar versteht Nietzsche wenig von der modernen biologischen Wissenschaft, aber gleichwohl ist er in der Lage, einen Grundirrtum der Lehre Darwins zu erkennen: Im Gebrauch der Kategorie der natürlichen Selektion hat Darwin, wie Nietzsche hervorhebt, das Leben selbst zu einer bloß reaktiven Funktion gemacht. Das Leben ist seiner Auffassung nach jedoch nichts, was sich anpasst oder auch nur angepasst wird. Es ist vielmehr eine aktive Kraft zur Gestaltung und Formung. Leben ist auch mehr als bloße Daseinserhaltung – es impliziert, wie Eucken und Bergson ebenfalls unterstreichen, eine Tendenz zur Selbststeigerung. Pointiert gesagt: Ein lebendiger Organismus ernährt sich, weil er wächst – und nicht umgekehrt. Das Über-seine-Grenzen-Hinauswachsen ist das Bewegungsmoment der lebendigen Welt, ist eine »Lebenskraft« (Lotze, Eucken) oder ein »élan vital« (Bergson).
Doch die Lebensphilosophie erstarrt nicht in einer antidarwinschen Haltung. Nietzsche hat durchaus den radikalen Sinn der Lehre Darwins von der Entstehung der Arten [55] anerkannt und mit Blick auf sie von der »letzten grossen wissenschaftlichen Bewegung« (Nietzsche 1988, 598) gesprochen. Gemeint ist hier die Konsequenz, mit der das Kausalitätsdenken vorbehaltlos auf die ganze Welt des Lebendigen angewendet wird. Dieser wissenschaftliche Impuls ist für Nietzsche als Beschreibungsmuster von Naturgeschehen gerechtfertigt, aber er darf in seinem Erklärungsanspruch nicht überdehnt werden. Denn er verfehlt den eigentlichen Mechanismus des Lebens und verkennt die Relation von Ausnahme und Regel in der Formung des außermenschlichen und auch menschlichen Lebens. »Der Kampf um’s Dasein ist nur eine Ausnahme, eine zeitweilige Restriktion des Lebenswillens; der grosse und kleine Kampf dreht sich allenthalben um’s Uebergewicht, um Wachsthum und Ausbreitung, um Macht, gemäss dem Willen zur Macht, der eben
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