Phobia: Thriller (German Edition)
mir!
Als er seine brennenden Augen wieder aufschlug, war das Gesicht verschwunden, und vor ihm war nur die feuchte Betonwand. Es gab kein Flüstern, nur das Heulen des Dezemberwinds, der sich weit über ihm in den Stahlträgern der Decke fing.
Im Endstadium werden Sie zu halluzinieren beginnen , hatte ihm der Arzt erklärt, und nun war ihm, als würde er Dr. Stone wieder gegenübersitzen – wie damals, an jenem Tag im Juni, der den Rest seines nur noch kurzen Lebens für immer verändern sollte.
Ich verstehe nicht, wieso Sie nicht schon früher zu mir gekommen sind, John , hatte Dr. Stone gesagt und ihn vorwurfsvoll angesehen. Ein Blick, mit dem er ihm hatte sagen wollen, dass es nicht seine Schuld sei, dass er ihm nicht mehr helfen konnte. Sie müssen doch gemerkt haben, dass mit Ihnen etwas nicht in Ordnung ist. Hatten Sie denn keine Schmerzen?
Natürlich hatte er es gemerkt, und natürlich hatte er Schmerzen gehabt, aber es war ihm gleichgültig gewesen. Der einzige Grund, weshalb er überhaupt den Arzt aufgesucht hatte, war die Frage gewesen, wie viel Zeit ihm noch blieb.
Denn als es angefangen hatte, als er gespürt hatte, dass es mit ihm zu Ende gehen würde, hatte er in diesem Schicksal eine Bestimmung erkannt. Er sollte noch etwas tun, etwas ganz Besonderes – auch wenn er zu dieser Zeit noch nicht gewusst hatte, was dieses Besondere sein sollte. Ein Vermächtnis, ja, damit sein Dasein auf dieser Welt einen Sinn gehabt hatte.
Damals hatte er begriffen, dass das menschliche Dasein vor allem aus Ängsten besteht. Doch die größte Angst von allen ist, dass wir vergehen und nichts von uns zurückbleibt. Dass wir aus dieser Welt gehen, ohne zuvor einen Beitrag geleistet zu haben.
Ich will Ihnen nichts vormachen , hatte Dr. Stone entgegnet. Ihre Brandnarben haben begonnen nach innen zu wuchern und Metastasen zu bilden. Sie sind bereits in ihrem ganzen Körper verstreut .
Wie lange habe ich noch, Doktor?
Dr. Stone hatte gezögert. Die Antwort fiel ihm offensichtlich schwer. Bleiben Sie einige Tage hier in der Klinik zur Beobachtung, dann kann ich Ihnen mehr sagen.
Also hatte er fast zwei Wochen in der Klinik verbracht und etliche Untersuchungen über sich ergehen lassen. Schließlich lagen die Ergebnisse vor. Es war sein Todesurteil.
Vierundzwanzig Monate. Maximal.
Stone hatte ihn überreden wollen, eine Therapie zu versuchen. Sie wird Sie nicht heilen können, aber sie würde die Schmerzen lindern , hatte er ihm versprochen. Doch er hatte abgelehnt und war gegangen. Er hatte erfahren, was er hatte wissen wollen.
Seither waren anderthalb Jahre vergangen.
Mit zitternden Händen holte er die kleine Tablettendose aus seiner Jackentasche hervor und betrachtete sie. Er hatte einen Apotheker bestechen müssen, um an das Morphin zu kommen. Dr. Stone hatte er nicht mehr sehen wollen und auch keinen anderen Arzt – nicht, nachdem er beschlossen hatte, zu einem Niemand zu werden und sämtliche seiner Spuren auszulöschen.
Auf Ihre eigene Verantwortung , hatte der Apotheker gesagt, nachdem er das Bündel Geldscheine unter dem Ladentisch hatte verschwinden lassen. Und denken Sie daran, selbst wenn Sie sich damit wie ein Gesunder fühlen, ist Ihr Körper krank. Gehen Sie also vorsichtig damit um, und übernehmen Sie sich nicht, andernfalls sind die Folgen fatal .
Er nahm zwei Pillen in den Mund, schloss die Augen und schluckte. Es war das erste Mal, dass er von dem Morphin Gebrauch machte. Die Wirkung setzte sehr schnell ein. Ihm war, als würden sich seine Schmerzen in eine dunkle Ecke zurückziehen. Wie ein Raubtier, das vor der Peitsche des Dompteurs zurückweicht.
Aber die Schmerzen waren nicht verschwunden. Sie belauerten ihn. Sie würden bald wieder zurückkehren und zu einer neuen Attacke ansetzen. Er musste sich also beeilen.
Er zog sich an dem Geländer hoch und öffnete die Stahltür, die mit kreischenden Scharnieren aufschwang. Dann betrat er die Halle, roch ihre steinerne Kühle und den Gestank menschlicher Exkremente.
Draußen war es bereits dunkel. Durch eines der schmutzigen Oberlichter konnte er die dünne Sichel des Mondes erkennen, und die Lichter der Stadt schienen matt und endlos weit entfernt hinter den großen staubigen Fenstern.
Seine Schritte hallten von den hohen Wänden wider, als er auf den Mann zuging, der dort auf dem Stuhl saß. Er blickte ihn angsterfüllt an, und sein Atem beschleunigte sich, was sich hinter dem Klebebandstreifen vor seinem Mund wie ein Pfeifen anhörte. Im
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