Phoenice wechselt die Seiten (German Edition)
und durch die Dämpfe noch immer in halber Trance sah er sie an. Eilig schnitt sie das Seil durch und versetzte dem Galgen einen noch heftigeren Tritt als dem Priester. Krachen fiel dieser zu Boden.
Sofort stürmten die drei rotgoldenen Wachen die Bühne. Zwei zogen ihre Peitschen, einer sein Messer. Staunend betrachtete sie die Klinge des mittleren Priesters. Sie war gut doppelt so lang, wie jene, die den Spitzen ausgehändigt worden waren.
'Macht nichts', dachte sie sich, Messerkampf gehörte ohnehin nicht zu ihren Spezialitäten. Sie trat nach seinem Arm und wehrte seinen blitzschnellen Konter ab. Gleichzeitig wandte sie drei Angriffe an: einen mit dem Ellbogen gegen sein Kinn, einen mit der Handkante gegen seinen Daumen und einen mit ihrer Fußkante gegen sein Schienbein. Bevor er zurück taumeln konnte, schob sie ihn in die Richtung des peitschenden Priesters zu ihrer rechten. Beide kreischten auf, als der Hieb seinen Rücken traf. Die rotgoldene Robe zu ihre linken drang ungehindert zu ihr vor. Während er für einen Hieb ausholte griff sie nach einem Holzteil, das einmal zum Galgen gehört hatte. Dieses schwang sie dem Peitschenende entgegen, dass sich sofort um das Holz wickelte. Dann warf sie es mitsamt dem Seil und dem daran festhaltenden Priester von der Bühne.
Sie hoffte, dass er sich beim Fallen einen Knochen brach, irgendeinen. Das würde ihr Zeit verschaffen.
Die Weißmaskierten wurden auf sie aufmerksam. Sie fingen den Priester auf. Auf dieser Seite der Bühne gab es keinen Ausweg für sie.
Rocko, der sich inzwischen aus seinen Ketten gewunden hatte, flüchtete auf die andere Seite der Bühne. Phoenice folgte ihm. Zum ersten Mal in ihrem Leben betrat sie einen Backstagebereich. Lange vermochte sie das Gefühl allerdings nicht auszukosten, denn zahlreiche weiße Roben begannen, auf sie einzustürmen. Sie erhaschte gerade noch einen Blick auf die anderen Bühnen. Auf diesen war ebenfalls Tumult ausgebrochen.
Plötzlich drehten sich die wütend herankommenden, weißen Gestalten um. Sie beobachteten Baal. Auch Phoenice konnte sich dem Schauspiel nicht entziehen. Eine Fackel lag zu seinen Füssen. Sie musste ihn mitten in die Brust getroffen haben, wie ein schwarzer Fleck auf seiner vornehmen Tunika verriet. Der schwarze Fleck verschwand allmählich. Flammen breiteten sich über sein Gewand aus. Sie ergriffen von dem exquisiten Stoff Besitz. Bald brannte die unbezahlbare Tunika lichterloh.
Der assistierende Priester war aus dem Blickfeld verschwunden. Wie eine lebende Flamme tanzte Baal auf der Bühne. Er schien sich nach wie vor in einer Art Trance zu befinden. Oder tat er nur so? Sowohl die Kapuzen als auch die Festivalgäste sahen ihm gebannt zu. Hatten die Dämpfe ihnen die Sinne vernebelt?
Es sah so aus, als könne das Feuer Baal nichts anhaben. Er predigte ungehemmt weiter. Aus seinen Unterarmen schossen Stichflammen. Als er sie anhob, wirkte er wie ein brennender Vogel in Menschengröße. Die Borten schmolzen nicht. Sie waren tatsächlich aus Gold. Aber auch Baal verbrannte nicht. Ihm schien die Hitze buchstäblich zu Kopf gestiegen zu sein. Die Priester schienen unschlüssig, ob sie sich den Flammen nähern sollten, oder nicht. Die brennende Gestalt wirkte respekteinflößend. Sie drehte sich langsam um sich selbst, während sie unablässig unverständliche Gebetsformeln murmelte.
Gehört das zur Zeremonie, oder nicht? Selbst die Masse der weißen Robe schien unschlüssig.
'Bestimmt gibt es dafür eine Erklärung', dachte sich Phoenice. Erst Rocko, der sie unabsichtlich am Gewand berührte, weckte sie aus ihrer Faszination. Sie mussten fliehen. Hinter der Bühne herrschte bereits reges Treiben. Zahlreiche Festivalgäste flüchteten in eine Richtung, die hinter den Bühnen lag. Wo wollten sie hin? Phoenice rannte zu ihnen. Bei ihrem Anblick hoben viele abwehrend die Hände. Ein Mädchen kreischte, ein anderes begrüßte sie mit Fußtritten. Sie betrachteten sie als Feindin. Rasch zog sie sich die Kapuze und die Maske herunter. Die meisten Gesichter entspannten sich. Ein menschliches Gesicht unter der Maske beruhigte sie offenbar. Ein Mann griff sie trotzdem an. Er wusste ja nicht, dass sie wirklich nicht zu den Spitzen gehörte. Rocko stellte sich schließlich zwischen sie und das Publikum. „Lasst sie in Ruhe!“ Vor ihm zeigten alle ehrfurchtsvollen Respekt. Sie erkannten und verehrten ihn. Er wehrte alle Autogrammanfragen ab und trieb sie weiter, die Mauer entlang. 'Wo wollen sie
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