Physiologie der Ehe (German Edition)
unvergleichlich viel weniger Gefahr dabei, wenn man den Mädchen die Freiheit gibt, als wenn man sie den Frauen läßt? Der Gedanke, ein Mädchen auf Probe zu nehmen, wird mehr ernste Männer zum Nachdenken anregen, als er Flachköpfe zum Lachen bringen wird. Die Sitten Deutschlands, der Schweiz, Englands und der Vereinigten Staaten geben den jungen Mädchen Rechte, die man in Frankreich als Umsturz aller Moral ansehen würde; nichtsdestoweniger ist es gewiß, daß in diesen Ländern die Ehen weniger unglücklich sind als in Frankreich.
»Wenn eine Frau sich ganz und gar einem Liebhaber hingegeben hat, muß sie den Mann, den die Liebe ihr zuführte, genau gekannt haben. Sie muß ihm notwendigerweise ihre Achtung und ihr Vertrauen geschenkt haben, bevor sie ihm ihr Herz schenkte.«
Der Strahlenglanz der Wahrheit, der aus diesen Zeilen hervorbricht, hat vielleicht den Kerker erleuchtet, in welchem Mirabeau sie schrieb; und wenn auch die anregende Beobachtung, die sie enthalten, der stürmischsten seiner Leidenschaften entsprossen ist, so enthält sie doch den Schlüssel zu dem sozialen Problem, womit wir uns beschäftigen. Ja, eine Ehe, die durch die fromme Prüfung, ohne welche echte Liebe sich nicht denken läßt, gefestigt ist, und gefestigt durch Überwindung der Ernüchterung, die dem Besitze folgt – eine solche Ehe muß die unlösbarste aller Vereinigungen sein!
Dann hat eine Frau nicht mehr das Recht, ihrem Mann vorzuwerfen, daß sie ihm nur auf Grund eines gesetzlichen Rechtes angehört! Sie kann in dieser erzwungenen Unterwerfung keinen Grund mehr finden, um sich einem Liebhaber hinzugeben, wie sie sich hingab, als sie in ihrem eigenen Herzen einen Komplicen hatte, dessen spitzfindige Fragen sie verführten, indem er stündlich zwanzigmal sie fragte, warum sie sich nicht aus freiem Willen einem Mann ergeben sollte, den sie liebte, da sie sich ja gegen ihren Willen einem Mann ergeben hätte, den sie nicht liebte. Dann ist es für eine Frau nicht mehr zulässig, sich über jene Mängel zu beklagen, die untrennbar sind von der menschlichen Natur: sie hat zum voraus deren Tyrannei kennen gelernt und ihre Launen gekostet.
Viele junge Mädchen werden in ihren Liebeshoffnungen getäuscht sein! – Aber liegt nicht für sie eine unermeßliche Wohltat darin, daß sie nicht die Lebensgefährtinnen von Männern sind, die zu verachten sie ein Recht hätten?
Einige Schwarzseher werden rufen, ein solcher Umschwung in unsern Sitten würde zu einer höchst gefährlichen allgemeinen Liederlichkeit führen; die Gesetze oder die Bräuche, die über den Gesetzen stehen, könnten schließlich doch nicht Skandal und Unmoralität decken; und wenn es unvermeidliche Übel gäbe, so dürfte doch zum wenigsten die Gesellschaft sie nicht ausdrücklich billigen.
Hierauf läßt sich leicht antworten. Vor allen Dingen: das vorgeschlagene System beabsichtigt, jene Übel zu verhüten, die man bis dahin als unvermeidlich angesehen hat; aber, wenn auch die Berechnungen unserer Statistik noch so ungenau sind, so haben sie doch auf alle Fälle eine ungeheure Wunde an unserm Gesellschaftskörper nachgewiesen. Unsere Moralisten würden also das größere Übel dem kleinern vorziehen? die Verletzung des Grundsatzes, auf dem unsere Gesellschaft beruht, einer noch gar nicht einmal so sicheren Zügellosigkeit der Mädchen? die Ausschweifung der Familienmütter, die die Quelle der Volkserziehung vergiftet und mindestens vier Menschen unglücklich macht, der Ausschweifung eines jungen Mädchens, das nur sich selber kompromittiert und höchstens noch ein Kind? Lieber gehe die Tugend von zehn Jungfrauen zugrunde, als diese Heiligkeit der Sitten, diese Ehrenkrone, die eine Familienmutter tragen sollte! In der Vorstellung eines jungen Mädchens, das von seinem Verführer verlassen ist, liegt etwas unbeschreiblich Erhabenes und Heiliges: wir denken an gebrochene Schwüre, an das verratene fromme Vertrauen, und wir sehen auf den Trümmern der Tugenden die weinende Unschuld, die an allem zweifelt, da sie an der Liebe eines Vaters zu seinem Kinde zweifeln muß. Die Unglückliche ist noch unschuldig; sie kann eine treue Gattin, eine zärtliche Mutter werden; und wenn die Vergangenheit mit schweren Wolken bezogen ist, so ist die Zukunft blau wie ein reiner Himmel. Finden wir diese zarten Farben auch auf den düstern Gemälden der unerlaubten Liebe? In dem einen Fall ist die Frau ein Opfer, im andern ist sie eine Verbrecherin. Wo ist die Hoffnung der
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