Physiologie der Ehe (German Edition)
dieser Welt mit größerer oder geringerer Ausdauer, je nach dem Begehren, dem Fleiß oder der Mühe, die sie uns gekostet haben.
Alles, was unsere Betrachtungen uns über die Ursachen dieses Hauptgesetzes der Liebe nachgewiesen haben, läßt sich auf den folgenden Grundsatz zurückführen, der ihr Prinzip und zugleich ihre Konsequenz ist:
LVIII. Unter allen Umständen empfängt man nur so viel, wie man gegeben hat.
Dieser letztere Grundsatz ist so von selber einleuchtend, daß wir gar nicht erst versuchen wollen, den Beweis dafür zu führen. Nur eine einzige Beobachtung, die uns nicht unwichtig erscheint, wollen wir daran anknüpfen. Der Mensch, der zuerst sagte: »Alles ist wahr, und alles ist falsch« – hat damit eine Tatsache behauptet, die der von Natur sophistische Menschengeist auf seine Art auslegt; denn es scheint wirklich, daß die menschlichen Verhältnisse in so vielen Facetten schillern, wie es Geister gibt, die sie betrachten. Diese Tatsache ist die folgende:
Es gibt in der Schöpfung kein einziges Gesetz, das nicht durch ein entgegengesetztes Gesetz im Gleichgewicht gehalten würde: das Leben als Ganzes ist aufzufassen als der Ausgleich zweier sich bekämpfender Kräfte. So ist es denn auch bei dem Gegenstand, der uns beschäftigt, bei der Liebe, ganz gewiß, daß du nicht genug empfangen wirst, wenn du zu viel gibst. Die Mutter, die ihre Kinder ihre ganze zärtliche Liebe sehen läßt, erweckt in diesen die Undankbarkeit: Undankbarkeit entsteht vielleicht aus der Erkenntnis, daß es einem unmöglich ist, eine Wohltat zu vergelten. Die Frau, die mehr liebt, als sie selber geliebt wird, muß notwendigerweise tyrannisiert werden. Dauernd ist jene Liebe, die stets die Kräfte zweier menschlicher Wesen im Gleichgewicht hält. Dieses Gleichgewicht läßt sich nun stets herstellen: dasjenige von den beiden Wesen, das am meisten liebt, muß in der Sphäre desjenigen bleiben, das am wenigsten liebt. Und ist es denn nicht schließlich das süßeste Opfer, das eine liebende Seele bringen kann, wenn die Liebe sich in solche Ungleichheit hineinfindet?
Welches Gefühl der Bewunderung erhebt sich in der Seele des Philosophen, indem er entdeckt, daß es vielleicht nur ein einziges Prinzip in der Welt gibt, wie es nur einen einzigen Gott gibt, und daß unsere Gedanken und unsere Gefühle denselben Gesetzen unterworfen sind, durch die die Sonne sich bewegt, durch die die Blumen sich erschließen, durch die das Weltall lebt!
Vielleicht muß man in dieser Metaphysik der Liebe die Gründe der nachstehenden Behauptung suchen, die die Fragen des Honigmondes und des Gewittermondes in die schärfste Beleuchtung rückt:
Lehrsatz:
Der Mensch gelangt von Abneigung zur Liebe; aber wenn er mit Liebe begonnen hat und von dieser zur Abneigung übergeht, kehrt er niemals zur Liebe zurück.
In gewissen mangelhaft organisierten menschlichen Wesen sind die Gefühle unvollständig, wie manchmal bei einer unfruchtbaren Phantasie das Denken unvollständig sein kann. Und wie der Geist mit der Fähigkeit begabt ist, die zwischen den verschiedenen Dingen bestehenden Beziehungen aufzufassen, ohne Schlüsse daraus zu ziehen, und zwar jede Beziehung einzeln, ohne Zusammenhang mit den andern aufzufassen; wie er mit der Fähigkeit begabt ist, zu sehen, zu vergleichen und auszudrücken – ebenso kommt es vor, daß Seelen nur unvollkommen zum Bewußtsein ihrer Gefühle gelangen. In der Liebe wie in jeder andern Kunst besteht das Talent darin, daß die Gabe des Entwurfs und die Gabe der Ausführung vereinigt sind. Die Welt wimmelt von Leuten, die, wenn sie ein Lied singen, den Refrain weglassen, die nicht nur Viertelsgedanken, sondern auch Viertelsgefühle haben, und die Bewegungen ihrer Empfindungen ebensowenig in eine richtige Ordnung zu bringen wissen, wie die ihrer Gedanken. Mit einem Wort: es gibt unvollständige Menschen. Bringt eine schöne Intelligenz mit einer verpfuschten Intelligenz zusammen, und ihr beschwört ein Unglück herauf: denn in allem muß Gleichgewicht da sein.
Wir überlassen den Boudoirphilosophen und den Hinterstübchenweisen das Vergnügen, ausfindig zu machen, wie auf tausenderlei Art durch Temperament, Geist, gesellschaftliche Stellung und Vermögensverhältnisse das Gleichgewicht gestört wird; wir wollen vielmehr jetzt die letzte Ursache untersuchen, die auf den Untergang des Honigmondes und auf den Aufgang des Wettermondes Einfluß hat.
Es gibt im Leben ein Grundgesetz, das mächtiger ist, als das Leben
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