Physiologie der Ehe (German Edition)
Verhalten der meisten Menschen denkt. Da seht die getreuen Abbilder aller Honigmonde! Das ist ihre Geschichte, das ist die Tatsache und nicht die Ursache.
Wenn nun aber Männer, die durch eine sorgfältige Erziehung mit einer gewissen geistigen Kraft begabt sind, die daran gewöhnt sind, tiefe und weitreichende Pläne zu entwerfen, um als Politiker, als Schriftsteller, als Künstler, als Geschäftsleute oder auch nur im Privatleben eine glänzende Stellung einzunehmen – wenn solche Männer sich ohne Ausnahme in der Absicht verheiraten, glücklich zu sein, eine Frau durch Liebe oder durch Gewalt zu beherrschen, und wenn sie trotzdem alle in dieselbe Schlinge gehen, wenn sie minotaurisiert werden, nachdem sie eine Zeitlang ein gewisses Maß von Glück genossen haben: so liegt ganz sicher hier ein Problem vor, dessen Lösung in den unbekannten Tiefen der Menschenseele eher zu finden sein wird, als in den sozusagen physikalischen Wahrheiten, durch die wir bereits verschiedene von diesen Erscheinungen zu erklären versucht haben. Das gefahrvolle Forschen nach den geheimen Gesetzen, die alle Menschen hierbei, gewiß unbewußt, zu verletzen scheinen, bietet immerhin Ruhmes genug, auch wenn das Ziel selbst nicht erreicht werden sollte. Wir wollen es daher versuchen.
Mögen auch die Dummköpfe noch so oft behaupten, das Wesen der Liebe lasse sich nicht erklären, so lassen sich doch für die Liebe ebenso unfehlbare Grundsätze aufstellen wie für die Geometrie; da aber jeder Charakter je nach seiner Anlage diesen Grundsätzen eine andere Form gibt, so schieben wir die Schuld für die eigentlich nur durch die unendliche Verschiedenheit unserer Anlagen hervorgerufenen willkürlichen Bildungen ungerechterweise auf die Liebe selbst. Wenn wir nun die mannigfaltigen Wirkungen des Lichtes sehen könnten, ohne dessen Urquell wahrzunehmen, so würden viele Leute nicht daran glauben, daß unser Licht von der Sonne herstammt und daß es nur eine Sonne gibt. Daher können meinetwegen die Blinden schreien, so viel sie Lust haben; ich bin zwar nicht so weise wie Sokrates, aber ich sage wie er voll Stolz, daß ich nur die Liebe kenne. Und ich will versuchen, einige der Lehren, die sie uns gibt, zu entwickeln, um den Verheirateten oder künftigen Eheleuten die Mühe zu ersparen, sich selber den Kopf darüber zu zerbrechen.
Alle unsere vorhergehenden Beobachtungen lassen sich in einen einzigen Lehrsatz zusammenfassen. Man kann diesen als den Schlußstein oder auch, wenn man will, als den Grundstein dieser geheimen Theorie der Liebe ansehen, die den Leser zuletzt langweilen würde, wenn wir sie nicht schnell zu Ende brächten. Dieser Grundsatz ist enthalten in der folgenden Formel:
LVI. Die Dauer der Leidenschaft zweier Menschen, die der Liebe fähig sind, richtet sich nach der Stärke des ersten Widerstandes der Frau oder der Hindernisse, die die Zufälle des gesellschaftlichen Lebens dem Glück der Liebenden entgegenstellen.
Wenn man nur einen Tag lang dich begehren läßt, wird deine Liebe vielleicht keine drei Nachte dauern. Wo muß man die Ursachen dieses Gesetzes suchen? Ich weiß es nicht. Wir brauchen nur unsere Blicke um uns zu werfen und bemerken überall in Hülle und Fülle Beweise für diese Regel: in der Pflanzenwelt ist den Gewächsen, die die längste Zeit zu ihrer Entwicklung gebrauchen, die längste Daseinsdauer gewährt; es ist ein sittliches Gesetz, daß Werke, die gestern entstanden sind, noch morgen dauern; es ist ein physisches Gesetz, daß der Schoß, der den Gesetzen der Schwangerschaft zuwiderhandelt, eine tote Frucht zur Welt bringt. Um es zusammenzufassen: ein dauerndes Werk bedarf langer Zeit zur Entwicklung. Eine lang dauernde Zukunft erfordert als Voraussetzung eine lang dauernde Vergangenheit. Wenn die Liebe ein Kind ist, so ist die Leidenschaft ein Mann. Und gerade dieses allgemeine Gesetz, das die Natur, die lebenden Wesen und die Gefühle beherrscht, wird in allen Ehen verletzt, wie wir es nachgewiesen haben. Die Erkenntnis dieses Grundgesetzes hat die Liebesfabeln unseres Mittelalters geschaffen: die Amadis, die Lancelot, die Tristan, der Fabliaux, deren Beständigkeit in der Liebe mit Recht fabelhaft erscheint, sind die allegorischen Verkörperungen jener nationalen Mythologie, die unsere Nachahmung der griechischen Literatur in ihrer Blüte erstickt hat. Die von der Einbildungskraft unserer Minnesänger entworfenen anmutigen Gestalten waren Zeugen für die Wahrheit.
LVII. Wir hängen an den Dingen
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