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Physiologie der Ehe (German Edition)

Physiologie der Ehe (German Edition)

Titel: Physiologie der Ehe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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Ja oder eines Nein willen; ein Chateaubriand würde Françoise de Foix gewiß nicht foltern lassen, und wir tragen nicht mehr an unserer Seite einen langen Degen, der stets bereit ist, eine Beleidigung zu rächen. In einem Jahrhundert, wo die Zivilisation so reißende Fortschritte gemacht hat, wo man uns jede x-beliebige Wissenschaft in vierundzwanzig Unterrichtsstunden beibringt, wird gewiß alles von diesem Streben nach Vollkommenheit fortgerissen worden sein. Wir können also nicht mehr die männliche, rauhe und derbe Sprache unserer Vorfahren sprechen. Das Zeitalter, in dem man so feine, so glänzende Gewebe erzeugt, so elegante Möbel, so kostbare Porzellane – es mußte auch das Zeitalter der bildlichen Ausdrücke und Umschreibungen sein. Man muß also versuchen, irgendein neues Wort zu prägen, um den komischen Ausdruck zu ersetzen, dessen Molière sich bedient hat: denn – wie ein Schriftsteller unserer Zeit sagt – die Sprache dieses Großen ist zu frei für unsere Damen, denen die Gaze für ihre Kleider zu dicht ist. Heutzutage kennen die Herrschaften der feinen Welt ebensogut wie die Gelehrten die angeborene Vorliebe der Griechen für die Mysterien. Dieses Dichtervolk hatte die alten Überlieferungen seiner Geschichte mit einem Anstrich des Fabelhaften auszuschmücken gewußt. In den Liedern seiner Dichter und Sänger wurden die Könige zu Göttern, und aus ihren Liebesabenteuern bildeten sich unsterbliche Allegorien. Wie uns der Lizentiat Chompré, der klassische Verfasser des ›Dictionnaire de Mythologie‹ , berichtet, war das Labyrinth ›ein ungehegter Platz, der auf eigenartige Weise mit Bäumen bepflanzt und mit Gebäuden ausgeschmückt war, so daß ein junger Mann, der dort eingetreten war, nicht mehr den Ausgang finden konnte‹. Hier und da erblickte er einige Gruppen von blühenden Gesträuchen, aber ringsum kreuzten sich eine Menge Baumgänge in allen Richtungen und boten dem Auge stets den Anblick eines gleichförmigen Weges dar; in dieser Wildnis von Felsen, Sträuchern und Dornen hatte der Unglückliche mit einem Ungeheuer zu kämpfen, das man den Minotauros nannte. Wenn Sie nun, meine Gnädige, mir die Ehre erweisen wollen, sich zu erinnern, daß die Mythologie von allem Hornvieh uns den Minotauros als das gefährlichste hinstellt; daß die Athener, um sich seinen Mord- und Raubzügen zu entziehen, ihm jahraus, jahrein fünfzig Jungfrauen gewissermaßen im Abonnement liefern mußten – dann werden Sie nicht in den Irrtum dieses guten Herrn Chompré verfallen, der in dem Labyrinth nur einen Englischen Garten sieht; sondern Sie werden in dieser sinnreichen Fabel eine feine Allegorie erkennen oder, besser gesagt, ein treues und furchtbares Bild der Gefahren der Ehe. Die vor kurzem in Herkulaneum entdeckten Gemälde haben diese Meinung völlig bestätigt. Die Gelehrten hatten allerdings nach den Schilderungen mehrerer Autoren lange Zeit geglaubt, der Minotauros sei zur Hälfte Mann, zur Hälfte Stier gewesen; aber auf dem fünften Blatt des Kupferwerkes, das die alten Gemälde von Herkulaneum wiedergibt, sehen wir dieses allegorische Ungeheuer vollkommen als Mann dargestellt, mit Ausnahme des Stierkopfes, den es auf seinen Schultern trägt; jeder Zweifel, daß in dieser Gestalt der Minotauros dargestellt ist, ist ausgeschlossen, denn er liegt zu Füßen des Theseus hingestreckt. Nun, gnädige Frau, warum sollten wir denn nicht die Mythologie bitten, der Heuchelei zu Hilfe zu kommen, die bei uns die Oberhand gewinnt, und uns nicht mehr lachen läßt, wie einst unsere Väter lachten? Wenn zum Beispiel eine junge Dame der guten Gesellschaft nicht recht verstanden hat, den Schleier zu hantieren, unter dem eine anständige Frau ihre Aufführung zu verdecken weiß, so hätten unsere Vorväter in ihrer Derbheit den ganzen Begriff durch ein einziges Wort ausgedrückt. – Sie dagegen, und mit Ihnen eine Menge anderer schöner Damen, die sich auf ein bedeutungsvolles Schweigen verstehen, Sie würden sich begnügen, zu sagen: ›Ach ja, sie ist sehr liebenswürdig, aber ...‹ – ›Aber was? ...‹ – ›... aber sie ist oft recht inkonsequent ...‹ Lange, meine Gnädige, habe ich nach dem Sinn dieses letztern Wortes gesucht, und besonders nach dem Grunde, warum Sie mit dieser rhetorischen Figur das Gegenteil von der Bedeutung ausdrücken, die ihr eigentlich innewohnt; mein Nachdenken ist vergeblich gewesen. Vert-Vert war also der Letzte, der das Wort unserer Vorfahren aussprach, und dabei hat

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