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Picasso kann jeder

Picasso kann jeder

Titel: Picasso kann jeder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Schuster
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zwanghaft ganze Stapel von Zeichnungen produzierte, sondern auch Schriften hinterließ, die zwei dicke Bände füllen. Er kreiste dabei um seine Lebensgeschichte, und es scheint so, dass er neben dem Ziel, Ordnung herzustellen, auch noch gegen Schuldgefühle kämpfen musste, die sich immer wieder einstellten. Das Schaffen hat – wie bei Wölfli – in solchen Fällen also therapeutische Funktion. Ob es dabei wirklich zu einer Heilung oder zu einer wiederkehrenden Sedierung der Symptomatik kommt, sei dahingestellt (Wölfli jedenfalls starb in einer psychiatrischen Klinik, in der er seit 1895 gelebt hatte).
    Manchmal ist es das einzelne Projekt, das in der kreativen Person eine Sehnsucht weckt und – vielleicht auch nur symbolisch – ein tieferes Bedürfnis befriedigt: So wollen Kreative etwa – symbolisch durch ihr Werk – etwas ersetzen, was sie verloren haben: das ozeanische Gefühl im Mutterleib (Salvador Dalí: »Janus in Kraft«), die nährende Mutterbrust, den Sexualpartner (Ferdinand Hodler, Paul Delvaux), die verlorene Mutter (Heinrich Schliemann, Edvard Munch). Oder sie wollen – symbolisch – etwas erlangen, das sie schmerzlich vermissen: Schönheit (Jacques-Louis David, Adolf Menzel, Henri Toulouse-Lautrec), eine gesicherte Abstammung (durch eine Sammlung von Dokumenten). Vielleicht wollen sie schmerzhafte Erfahrungen verkraften, etwa ein Missbrauchstrauma überwinden (Niki de St. Phalle), das Trauma von Schmerzen und Kränkungen bearbeiten (Frieda Kahlo), Schuldgefühlen begegnen (Adolf Wölfli, William Faulkner/Tod des Bruders). Vielleicht haben sie auch einfach den Wunsch, bedeutend zu sein, und wollen Minderwertigkeitsgefühle überwinden (van Gogh), etwas Wichtiges entdecken (etwa Sigmund Freud; bevor er der Begründer der Psychoanalyse wurde, erforschte er Rausch- bzw. Betäubungsmittel, von denen er Kokain zeitweise selbst einnahm).
    Auch bei vielen Wissenschaftlern – Freud wurde schon genannt – hängt die Wahl der Forschungsgebiete mit Sehnsüchten und unerfüllten Wünschen zusammen. Sicherlich haben die Wissenschaftler, Künstler und Entdecker die Befriedigung durch das Projekt nicht bewusst geplant. Eher haben sie bei einer Tätigkeit tiefe Befriedigung gefunden, ohne weiter darüber nachzudenken. So kommt es eben zu der großen Zähigkeit, mit der sie ihre Ideen verfolgen und mit der sie Rückschläge immer wieder überwinden können.
    Kann man die gewonnenen Erkenntnisse zum Schaffensdrang verwerten? Natürlich kann es nicht schaden, ein kreatives Projekt in einen – ausgleichenden – Zusammenhang zu eigenen Sehnsüchten oder Kränkungen oder empfundenen Mängeln zu stellen. Dann ist es besonders leicht, mit viel Energie und Ausdauer daran zu arbeiten. Stellen Sie sich offen den Wunden, Verletzungen und Sehnsüchten Ihres Lebens. Wie könnte ein künstlerisches oder ein anderes kreatives Projekt – symbolisch – Ihre Wunden heilen?
    Jedes Handeln wird aber auch ganz von selbst von diesen Wünschen und Sehnsüchten angezogen. Wenn man besondere Lust hat, etwas Bestimmtes zu tun, dann steht dies sicher in einer inneren Beziehung zu den eigenen Sehnsüchten. Ein Beispiel ist das Briefmarkensammeln, das etwas mit der Sehnsucht nach der Ferne, aber auch mit dem Wunsch nach der heimischen Sicherheit zu tun hat.
    Auch die Menge der Werke ist ein Merkmal der Kreativität einer Person: Um Vergleiche zu erleichtern, schlage ich hier eine dritte Skala für den Schaffensdrang vor. Auch in der Alltagskreativität kann der Schaffensdrang ganz unterschiedlich ausgeprägt sein.
Eine Skala für den Schaffensdrang
(mit Stufen von 4 bis 1)
    Ganz kurz sei hier eine Skala entworfen, nach der man den Schaffensdrang kreativer Menschen einschätzen kann.
Stufe 4 : Der Kreative schafft über sein ganzes Leben und erbringt viele Leistungen in verschiedenen Bereichen. Beispiele: Adolf Wölfli malt und schreibt manisch (s. o.); Johann Wolfgang Goethe war Dichter und Maler und war zunächst unentschlossen, welchem Bereich er sich hauptsächlich zuwenden wollte; Leonardo da Vinci war Maler, Konstrukteur, Architekt, Anatom; Jean Cocteau schrieb Texte, zeichnete, war Schauspieler und Regisseur. Hier erkennen wir den Willen zur Kreativität. Wenn ein Mensch einmal den Willen hat, kreativ zu sein und Neues zu schaffen, tut er es oft in allen Bereichen, in denen er talentiert ist.
Stufe 3: Der Kreative schafft viele Werke und erbringt Leistungen in einem Hauptbereich und einige Leistungen in verschiedenen anderen

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