Picknick auf dem Eis (German Edition)
zurück. In der Hand hatte er einen dicken Schnellhefter.
»Da bitte«, sagte er und legte den Hefter auf den Tisch. »Für Sie wird natürlich längst nicht alles interessant sein. Aber wenn Sie was Nützliches finden, würde ich mich sehr freuen!«
»Könnte ich auch etwas für Sie tun?« fragte Viktor, der dem Pinguinologen gerne seine Dankbarkeit zeigen wollte, aber nicht wußte wie.
»Ach, wissen Sie«, sagte Pidpalyj leise. »Wenn Sie mir meine Arbeit zurückgeben, bringen Sie mir doch ein paar Kilo Kartoffeln mit.«
28
Zwei Wochen waren vergangen. Sonja hatte sich an die neue Wohnung gewöhnt und fragte immer seltener nach ihrem Papa. Viktor gewöhnte sich an Sonja, wie er sich vorher an den Pinguin gewöhnt hatte. An ihren Vater dachte er oft, da er nicht wußte, was mit ihm los war und ob er überhaupt noch lebte.
Der starke Frost hielt an. Manchmal ging Viktor abends, wenn es auf den Straßen schon dunkel und leer war, mit Sonja und dem Pinguin spazieren. Sie liefen zu dem großen Platz mit den drei Taubenschlägen. Der Schnee knirschte unter den Stiefeln, und manchmal rannten herumstreunende Straßenköter auf den Pinguin zu, aber sie bellten nicht, sondern beschnüffelten nur dieses merkwürdige Tier, das überhaupt nicht auf sie reagierte. Sonja rannte zu ihnen und scheuchte sie mit den Händen von Mischa weg und blies dabei die Backen auf. Die Hunde liefen weg, und Sonja war zufrieden.
Pidpalyjs Manuskript hatte Viktor bald durchgelesen. Vieles blieb ihm unverständlich, aber er entdeckte auch einiges Nützliche. Die wichtigsten Seiten kopierte er im nächsten Buchladen und legte das Manuskript danach deutlich sichtbar in die Küche, um es dem Autor bei nächster Gelegenheit zurückzubringen.
Die Arbeit ging auch voran. Den Schnellhefter, den er vom Chef bekommen hatte, hatte er durchgearbeitet, und zwölf neue ›Kreuzchen‹ lagen jetzt auf dem Fensterbrett und warteten auf ihren großen Tag. Mit ihnen hatte er sich schwergetan: Der Chef hatte in diesen Dossiers potentieller Toter so viel unterstrichen, daß nicht alle Fakten in die von Viktor erarbeitete, geschliffene Form des Nachrufs paßten. Der Rhythmus mußte beschleunigt und die unterstrichenen Tatsachen wie kurze biographische Notizen eingestreut werden. Aber diese Einschübe erinnerten eher an Sätze aus einer Anklageschrift.
Als Viktor die neuen Nekrologe fertig hatte, dachte er zum ersten Mal darüber nach, daß nur in einem, und noch dazu zufällig entstandenen Nachruf, die Heldin ein reines Opfer war, ohne Anspielungen auf eine dunkle Vergangenheit oder andere wahre Fakten. Das war die Opernsängerin Julija Parchomenko. Sofort kamen ihm aber auch Zweifel, auch da gab es Anspielungen, sie könne womöglich mit dem Verschwinden der anderen Sängerin zu tun haben… Und ihre Liebe zu dem verstorbenen Jakornitzkij… ›Nein‹, dachte Viktor, ›Menschen mit völlig reiner Weste und ohne Sünden gibt es nicht, oder sie sterben unbemerkt, ohne Nekrolog‹. Dieser Gedanke erschien Viktor überzeugend. ›Menschen, die einen Nekrolog verdienen, haben gewöhnlich irgendwas erreicht‹, dachte er. ›Sie haben für ihre Ziele gekämpft, und wenn man kämpft, ist es schwer, sauber und ehrlich zu bleiben. Und jeder Kampf in der heutigen Zeit ist ein Kampf um materielle Werte. Die verrückten Idealisten sind wie eine untergegangene Klasse verschwunden. Übriggeblieben sind verrückte Pragmatiker…‹
Einige Male hatte der Revierpolizist Sergej angerufen, und am letzten Sonntag waren sie wieder zu einem Picknick auf dem Eis an den Dnjepr gefahren, diesmal mit Sonja. Sie amüsierten sich nicht schlecht, und auch Mischa-Pinguin schwamm ausgiebig in dem großen Eisloch. Viktor und Sergej tranken Kaffee mit Kognak und hockten wieder auf der wattierten Decke. Für Sonja hatten sie Pepsi und Bonbons gekauft. Alle drei beobachteten das Eisloch, aus dem Mischa-Pinguin wie hochkatapultiert heraussprang. Er flog anderthalb Meter über das Eisloch und landete komisch tolpatschig auf dem Eis und beeilte sich, zur Decke zu kommen. Sonja rieb ihn fürsorglich mit dem Handtuch ab, dann watschelte er wieder zum Eisloch.
Sie saßen fast bis zum Eintritt der Dunkelheit am Ufer und mußten sich beeilen, das blaue Eis des Dnjepr zu überqueren und zu dem am alten Platz an den Klostergärten geparkten Saporosh zu gelangen.
Danach begann wieder eine normale Woche, aber Viktor fühlte, wie sich die Sorgen mehrten, war er doch jetzt auch noch für Sonja
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