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Picknick auf dem Eis (German Edition)

Picknick auf dem Eis (German Edition)

Titel: Picknick auf dem Eis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow
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Telefon.
    »Einen schönen guten Tag!« ertönte eine bekannte Stimme. »Wie geht es?«
    »Gut.«
    »Ich bin wieder in Kiew«, sagte die Stimme, und Viktor begriff: Es war der Chef. »Du kannst deinen Urlaub als beendet ansehen…«
    »Soll ich in die Redaktion kommen?« fragte Viktor erstaunt.
    »Warum Zeit verlieren? Ich schicke dir einen Boten. Du gibst ihm deine fertigen Texte, und er bringt dir neue Arbeit. Bist du zu Hause?«
    »Ja.«
    »Na ausgezeichnet! Übrigens, obwohl du kein Gewerkschaftsmitglied bist, wird dir der Urlaub natürlich bezahlt. Tschüß!«
    Viktor kochte sich Kaffee und freute sich an der Stille in der Wohnung. Nina und Sonja waren nach Puschtscha Wodiza gefahren, um Schneeglöckchen zu suchen. In dieser Stille konnte man sich mit einer Tasse Kaffee an den Tisch setzen und in aller Ruhe über alles nachdenken. In dieser Stille konnte man sogar einfach nur dasitzen und nicht nachdenken, nur Kaffee trinken, sich auf den Geschmack konzentrieren und überhaupt keine Gedanken an sich heranlassen, die den Seelenfrieden stören könnten.
    Aber als er am Tisch seinen starken Kaffee schlürfte, spürte er, wie aufgeregt er war.
    Als Mischa ein Stück Fisch fallen ließ, zuckte Viktor zusammen, beugte sich nach rechts und guckte den Pinguin an.
    Der Geschmack des Kaffees war nicht mehr wichtig. Die Unruhe wuchs. Schreckliche Gedanken und Fragen bedrängten ihn.
    Was nun? Wieder die ›Kreuzchen‹? Wieder die rot unterstrichenen Fakten aus den Biographien von Leuten, die nichts davon wußten, daß ihr Nachruf schon in Arbeit war? Ab und an ein Kaffeeklatsch im Büro des Chefs? Ihr gutes Verhältnis zueinander, die zittrigen, runden Buchstaben der Unterschrift des Chefs? Seine lakonische Ergebenheit dem Wort ›erledigt‹ gegenüber, das mehrfach akkurat auf die Originale der Nachrufe gemalt war und die Zeitungsleser vom Tod des nächsten Menschen, der einen längeren Nekrolog verdiente, unterrichtete.
    Die neue, von Viktor geschaffene Gattung hatte sich als langlebig herausgestellt. Im Gegensatz zu vielen Heroen dieser Gattung. Aber Viktor spürte keine Sehnsucht mehr nach Ruhm, er wollte schon lange nicht mehr ausposaunen: ›Das habe ich geschrieben!‹ Ihm war völlig mit dem anonymen Der Engste Freundeskreis gedient. Er spürte, daß er in diesem Kreis nicht allein war. Der Chef war auch einer der Freunde. Ein gewisser Jemand war ebenfalls Mitglied dieses Freundeskreises, vielleicht sogar der Hauptfreund. Dieser gewisse Jemand stimmte den Nekrologen zu und setzte seine schwungvolle Unterschrift unter Viktors Texte. Aber was er billigte, war Viktor immer noch nicht ganz klar. Stimmte er dem Text zu oder dem Helden des Textes? Und was bedeuteten diese Datumsangaben, die offensichtlich den Tag der Veröffentlichung bestimmten, aber zu einem Zeitpunkt, an dem die Helden der Nekrologe noch lebten? Eine Planwirtschaft des Todes?
    Nein, begriff Viktor, dieser gewisse Jemand billigte nicht die Qualität des Textes, nicht seine philosophischen Abschweifungen und erfolgreichen Darstellungen der unerwarteten Wenden im Leben der Personen. Dieser gewisse Jemand stimmte der Auswahl der Leute selbst zu und legte fest, wie lange sie noch zu leben hatten! Und der Chef spielte bei all dem eine unerwartet kleine Rolle, eine Mischung von Bote und Kontrolleur. Obwohl es sicher zu seinen Pflichten gehörte, die Nachrufe an dem bestimmten Tag zu veröffentlichen, schien auch diese Rolle Viktor im Moment nicht besonders bedeutend. Genau wie seine eigene Rolle, die er sowieso nicht ganz verstand.
    Ungeachtet seiner logischen Gedankengänge lenkte ihn eine plötzliche Erinnerung ab und ließ ihn erschauern. Obwohl er scheinbar fast alles durchschaute, was passierte, warf ihn diese Erinnerung gleichsam zurück und hielt ihn von dem Versuch ab, die Gleichung mit einer unbekannten und zwei bekannten Größen zu lösen. Ihm kamen die letzten Worte des Chefs in den Sinn, die er ihm als Antwort auf seine neugierige Frage in der Nacht gegeben hatte, als unten das Auto wartete, das ihn zum Flughafen bringen sollte.
    ›Man wird dir das alles nur in dem Fall erzählen, wenn deine Arbeit, wie im übrigen auch dein Leben, nicht mehr gebraucht wird.‹
    Damals schien es Viktor, als verabschiede er sich vom Chef für immer. Und er dachte ernsthaft, daß seine Arbeit beendet wäre, obwohl ihn das im Safe des Chefs entdeckte Rätsel trotz allem beunruhigte. Aber schon am nächsten Tag schien die Zeit selbst das Ganze in die

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