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Picknick auf dem Eis (German Edition)

Picknick auf dem Eis (German Edition)

Titel: Picknick auf dem Eis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow
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Vergangenheit gerückt zu haben. Und Viktor verlor jedes Interesse an diesem Rätsel, dessen Mitschöpfer er offensichtlich war. Er hatte nur eine weitere Etappe seines Lebens hinter sich gebracht. ›Besser nichts wissen, aber leben. Besonders, wenn schon alles vorbei ist‹, dachte er damals.
    Und nun stellte sich heraus, daß es überhaupt nicht vorbei war, sondern daß alles weiterging. Er mußte weiter arbeiten und seine Aufmerksamkeit auf die vom Chef rot unterstrichenen Zeilen richten.
    ›Lohnt es sich zu erfahren, was da vor sich geht?‹ dachte er jetzt. ›Lohnt es sich? Lohnt es sich, sein vielleicht sonderbares, aber trotz allem angenehmes Leben, seine Ruhe zu riskieren?‹ Die ›Kreuzchen‹ mußten sowieso geschrieben werden, er mußte sich unverzichtbar machen, um am Leben zu bleiben.
    Wieder fiel ihm der letzte Satz des Chefs ein.
    Nein, entschied Viktor, der Teufel soll es holen, aber es ist entschieden gesünder, nicht über all das nachzudenken.
    Er nahm die Mappe mit den längst fertigen Nekrologen der Militärs vom Fensterbrett, las die Namen und Texte noch einmal durch.
    ›Was geht mich das an, was mit diesen Generälen passiert?‹ dachte er. ›Was geht mich das an, für welchen Tag der Unbekannte ihren Tod plant? Mit einem Nekrolog, aus dem man im übrigen den Schluß ziehen könnte, daß der Verstorbene den Tod tatsächlich verdient hatte?‹
    Wenn sein Leben so von der Arbeit abhing, dann sollte die Arbeit ruhig weitergehen. Dann wäre es wahrscheinlich wirklich besser, sich aus allem rauszuhalten. Nein, keine Dummheiten machen, nicht versuchen, wegzulaufen, sich in einer anderen Stadt zu verstecken, sondern viel einfacher: Ninas Traum verwirklichen, ein kleines Haus auf dem Dorf kaufen, dahin umsiedeln und glücklich zu viert dort leben; diese ›Kreuzchen‹ schreiben und sie in die Stadt schicken, wie in ein anderes Land, in dem bei weitem nicht alles in Ordnung ist.
    Viktor war völlig in seine Gedanken vertieft, als der Pinguin ihm seinen Kopf auf die Knie legte; er zuckte zusammen, sah Mischa an und streichelte ihn.
    »Willst du aufs Land?« fragte er den Pinguin leise und lächelte bitter, so unrealistisch schienen ihm seine Träume.
    56
     
    Und als ob am Vortag tatsächlich der Urlaub zu Ende gegangen wäre, saß Viktor an seiner Schreibmaschine und begutachtete bei einer Tasse Kaffee ein neues ›Kreuzchen‹, das sich nicht recht zusammenfügen ließ. Die zweite Hälfte des Küchentisches besetzte Sonja mit ihren Buntstiften und Filzmalstiften. Nina war morgens irgendwohin gegangen, sogar ohne einen Zettel zu hinterlassen, aber das beunruhigte Viktor nicht. ›Sicher ist sie nicht lange weg‹, dachte er.
    In der Mappe mit den neuen Materialien, die der Bote am gestrigen Abend gebracht hatte, fand Viktor außer einem Dossier für einige Vertreter des Gesundheitsministeriums einen Umschlag mit der Aufschrift ›Urlaub‹ und fünfhundert Dollar Inhalt. Das Geld hob ein wenig seine schöpferische Stimmung, aber trotzdem ging die Arbeit furchtbar langsam voran. Die Worte wollten einfach nicht recht zusammenpassen, die Sätze fielen auseinander, Viktor strich sie nervös durch und baute neue.
    »Sieht es ihm ähnlich?« fragte Sonja plötzlich und zeigte ihm ihr Bild.
    »Was ist das?« Viktor sah sich das Bild an.
    »Das ist Mischa!«
    Viktor schüttelte verneinend den Kopf.
    »Das sieht eher wie ein Huhn aus«, sagte er nachdenklich.
    Sonja zog die Augenbrauen zusammen, sah sich das Bild an und warf es auf den Boden.
    »Sei nicht böse!« bat Viktor sie. »Du mußt lernen, nach der Natur zu zeichnen…«
    »Und wie macht man das?«
    »Ganz einfach: Du setzt dich vor Mischa, guckst ihn an und zeichnest ihn. Dann sieht es ihm ähnlich.«
    Diese Idee gefiel Sonja, und sie zog mit allen ihren Malstiften und noch einigen Blatt Papier los, um Mischa zu suchen. Viktor wandte sich wieder seinem Text zu. Mit größter Mühe beendete er den ersten Nachruf und rieb sich die Schläfen. Offensichtlich war er diese Arbeit nicht mehr gewöhnt.
    Im Flur fiel eine Tür ins Schloß.
    ›Nina‹, dachte Viktor und sah auf den Wecker auf dem Fensterbrett.
    Es war fast Mittag.
    Einen Moment später kam Nina in die Küche.
    »Hallo!« rief sie und lächelte ihn freudig an.
    Viktor sah keinen besonderen Grund zur Freude.
    »Hallo«, sagte er ziemlich trocken.
    »Fällt dir nichts auf?«
    Viktor betrachtete sie von oben bis unten. Dieselben Jeans, derselbe alte Pullover. Alles wie immer.
    Er zuckte mit

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