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Picknick auf dem Eis (German Edition)

Picknick auf dem Eis (German Edition)

Titel: Picknick auf dem Eis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow
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gefrühstückt, da bin ich zu schwer.«
    Viktor lächelte. Zum ersten Mal unterhielt er sich so leicht und ohne innere Anspannung mit Sonja. Zum ersten Mal nach all diesen Monaten. Es erschien ihm merkwürdig, daß er nie aufgehört hatte, Sonja als fremd und zufällig in seinem Leben zu sehen. Als hätte man sie ihm vor die Füße geworfen und als wäre er ein zu guter Mensch gewesen, um sie in ein Waisenhaus zu bringen. Nein, natürlich war das nicht ganz so. Ihn leitete ein seltsames Pflichtgefühl. Mischa-Nicht-Pinguin, den er kaum kannte, hatte ihm seine Tochter in einem Moment anvertraut, als ihm Gefahr drohte. Ganz sicher hätte er sie wieder geholt, wenn er noch lebte. Aber jetzt konnte sie niemand mehr holen. Mischa hatte nicht ein einziges Mal ihre Mutter erwähnt. Und dann versuchte sein Freund-Feind Sergej Tscherkalin sie Viktor wegzunehmen, aber irgendwie schlaff und wenig nachdrücklich, war gegangen, ohne sich zu verabschieden und ohne darauf zu bestehen… Nun hatte sich Sonja in seiner Wohnung eingelebt, ohne ihn besonders zu stören oder zu nerven. Zwar war das in großem Maße Ninas Verdienst, Nina, die ohne Sonja natürlich hier nie aufgetaucht wäre… Sonst würden sie beide, er und Mischa, wie früher zu zweit, mehr schlecht als recht, eben ganz gewöhnlich zusammen leben.
    Gegen drei Uhr kam Nina. Nach dem Besuch bei Sergejs Mutter war sie noch einmal durch die Geschäfte gestreift und breitete jetzt auf dem Küchentisch Schmelzkäse, Würstchen und Quark aus.
    »Weißt du«, erzählte sie, als Viktor in die Küche kam. »Sergej hat aus Moskau angerufen. Bei ihm ist alles in Ordnung…«
    Sie küßte Viktor.
    »Du riechst immer noch nach Lagerfeuer!« sagte sie lächelnd.
    55
     
    Es vergingen einige Tage, eintönig und ruhig. Das einzige, was Viktor in dieser Zeit tat, war, daß er zwei Türschlösser auswechselte. Die hatte er selber gekauft und baute sie selber ein. Die Befriedigung darüber hielt einige Stunden an, dann langweilte er sich wieder. Man müßte etwas machen, aber es gab nichts zu tun. Und zum Schreiben hatte er keine Lust.
    »Onkel Witja!« rief Sonja am Morgen begeistert. Sie stand an der Balkontür. »Die Eiszapfen weinen!«
    Wieder herrschte Tauwetter. Es wurde auch Zeit, es war schon Anfang März.
    Viktor wartete auf den Frühling, als wenn die Wärme alle seine Probleme lösen würde. Obwohl er, wenn er über seine Probleme nachdachte, verstand, daß diese Probleme eigentlich gar nicht so groß waren. Geld war noch vorhanden, um so mehr, als der Chef unerwartet seine Schulden mithilfe der rätselhaften nächtlichen Post beglichen hatte. Und auf dem Schrank lag neben der Pistole ein beträchtlicher Packen Hundertdollarscheine, und obwohl das Sonjas Geld war, hatte Viktor als inoffizieller Vormund das moralische Recht auf einen Teil davon.
    Nina gab sich nach wie vor den ganzen Tag mit Sonja ab, mal blieben sie zu Hause, mal gingen sie weg und ließen Viktor allein. Aber die Nacht vereinte sie wieder, und obwohl Viktor wußte, daß es weder Liebe noch Leidenschaft war, wartete er trotzdem auf die nächste Nacht, wartete mit seinem ganzen Körper darauf. Wenn er Nina umarmte, sie streichelte und liebte, vergaß er alles. Die Wärme ihres Körpers erschien ihm wie der Frühling, den er so ungeduldig herbeisehnte. Tief in der Nacht, wenn sie schon schlief und leise im Schlaf atmete, lag er mit offenen Augen da und genoß das seltsam angenehme Gefühl eines geordneten Lebens. Während er so dalag, dachte er, daß er alles habe, was man für ein normales Leben brauchte. Eine Frau, ein Kind, einen Pinguin als Haustier. Und obwohl ihm bewußt war, wie künstlich die Verbindung dieser vier Lebewesen zu einem Ganzen war, verdrängte er dieses Bewußtsein zugunsten des Gefühls von Wohlbehagen und einer zeitweiligen Illusion von Glück. Aber wer weiß, vielleicht war dieses Glück gar nicht so illusionär, wie ihm das seine nüchternen Morgengedanken darstellten. Was kümmerten ihn in der Nacht seine morgendlichen Gedanken. Allein der Wechsel des nächtlichen Glücks und des morgendlichen vernünftigen Denkens, die Beständigkeit dieses Wechsels bewies, daß er glücklich war und gleichzeitig vernünftig denken konnte. Also war alles in bester Ordnung, und das Leben war lebenswert.
    Ein unerwarteter Anruf überraschte ihn in der Küche, als er gerade das Frühstück für Mischa aus dem Gefrierschrank fischte. Viktor warf die Fischstücke in eine Schüssel und ging ins Wohnzimmer zum

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