Picknick mit Bären
»Scheiße, Bryson, was machst du denn da unten?« Aber es fielen keine Bäume um. Der Wald blieb ruhig, unnatürlich still, und so war es fast überall. Außer dem gelegentlichen Glucksen eines Wasserlaufs und dem leisen Rascheln der vom Wind über den Boden gepusteten Blätter gab es fast kein Geräusch.
Der Wald war deswegen so still, weil der Frühling noch nicht eingesetzt hatte. Normalerweise wären wir jetzt mitten durch die reizvolle Pracht spaziert, die der Frühling in den Bergen im Süden mit sich bringt: eine strahlende, fruchtbare, wie neugeborene Welt, erfüllt vom Schwirren der Insekten und dem Gezwitscher aufgeregter Vögel, eine Welt, gewürzt von frischer, bekömmlicher Luft und dem samtigen, die Lungen erweiternden Geruch von Chlorophyll, den man einatmet, wenn man durch niedriges, blattreiches Gehölz streift. Vor allem aber gäbe es Wildpflanzen in Hülle und Fülle, die sich tapfer durch die fruchtbare Streu auf dem Waldboden hindurch dem Licht entgegenstreckten, jeden Sonnenhang und jede Uferböschungineinen Teppich verwandelten – Wachslilie, kriechende Heide, Doppelsporn, Zeichenwurz, Alraune, Veilchen, Kornblume, Butterblume und Blutkraut, Zwerglilie, Akelei, Sauerklee und andere unzählige, wundervolle Pflanzen. Es gibt 1.500 verschiedene Wildpflanzen in den südlichen Appalachen, 40 seltene Arten allein im Norden von Georgia. Ihr Anblick erwärmt noch das kälteste Herz. In diesem grimmigen März jedoch war davon nichts zu sehen. Wir stapften durch eine kalte, stille Welt kahler Bäume, unter einem bleigrauen Himmel, über steinharten Boden.
Nach einigen Tagen stellte sich ein gewisser Rhythmus ein. Wir standen jeden Morgen beim ersten Tageslicht auf, bibbernd, wärmten uns, kochten Kaffee, bauten unsere Zelte ab, aßen ein paar Handvoll Rosinen und begaben uns auf den Weg durch den stillen Wald. Wir wanderten von halb acht bis etwa vier Uhr. Wir gingen selten zusammen, unser Schrittempo paßte einfach nicht zueinander, aber alle paar Stunden ließ ich mich auf einem Baumstamm nieder – nicht ohne vorher die Umgebung nach Bären und Wildschweinen abgesucht zu haben – und wartete ab, bis Katz aufgeholt hatte, um sicher zu sein, daß auch alles in Ordnung war. Manchmal überholten mich Wanderer und sagten mir, an welcher Stelle Katz gerade war und welche Fortschritte er machte, er war fast immer langsamer, aber gut aufgelegt. Der Trail war für ihn sehr viel beschwerlicher als für mich, aber zu seinen Gunsten muß ich sagen, daß er sich mit Meckern zurückhielt. Ich vergaß keine Sekunde lang, daß er ja nicht hätte mitkommen müssen.
Ich hatte gedacht, wir würden den Massen zuvorkommen, aber in der Region waren doch schon ziemlich viele Wanderer unterwegs – drei Studenten von der Rutgers University in New Jersey, ein erstaunlich sportliches älteres Ehepaar mit kleinen Tagesrucksäcken, das zur Hochzeit ihrer Tochter im fernen Virginia wollte, ein etwas unbedarftes Kerlchen namens Jonathan aus Florida – mit uns zusammen etwa ein Dutzend, die alle Richtung Norden zogen. Da jeder ein anderes Schrittempo hat und zu unterschiedlichen Zeiten Pausen einlegt, trifft man unweigerlich irgendwann auf einzelne oder auf alle Mitwanderer, besonders auf Berggipfeln mit Panoramablick, an Bächen mit sauberem Wasser und natürlich an den Schutzhütten, die in Abständen auf Lichtungen neben dem Trail stehen, angeblich, aber nicht unbedingt immer jeweils eine Tagesetappe voneinander entfernt. Auf diese Weise lernt man seine Mitwanderer kennen, wenigstens oberflächlich, noch besser natürlich, wenn man sie jeden Abend in den Schutzhütten wiedersieht. Man wird Teil eines bunt zusammengewürfelten Haufens, einer lockeren, verständnisvollen Gemeinschaft von Leuten aller Altersgruppen und sozialen Schichten, die jedoch alle gleichermaßen Wind und Wetter, den Widrigkeiten des Wanderlebens und der Landschaft ausgesetzt sind, angetrieben von dem gleichen Impuls, bis nach Maine zu gehen.
Selbst bei Hochbetrieb verschafft einem der Wald noch großartige Momente der Einsamkeit, und wenn ich stundenlang keine Menschenseele sah, spürte ich das erhebende Gefühl absoluten Alleinseins. Häufig wartete ich auf Katz, und es kam kein anderer Wanderer vorbei. Dann ließ ich meinen Rucksack stehen und ging zurück, um ihn zu suchen, nach ihm zu sehen, was ihn immer beruhigte. Manchmal winkte er mir schon von weitem mit meinem Wanderstab, den ich an einem Baum abgestellt hatte, weil ich mir die Schuhe
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