Picknick mit Bären
das Wetter freundlich – eher herbstlich als frühlingshaft, aber dafür erfreulich mild. Um zehn lag die Temperatur bei angenehmen 20 Grad. Zum ersten Mal seit Amicalola zog ich meine Jacke aus, und sofort bemerkte ich mit schwachem Erstaunen, daß ich keinen Platz hatte, um sie zu verstauen. Schließlich band ich sie mit einem Gurt am Rucksack fest und stapfte weiter.
Es ging 6,5 Kilometer bergauf, über den Blood Mountam, mit 1.359 Meter die höchste und schwierigste Erhebung auf dem Wegabschnitt in Georgia, danach folgte ein steiler Abstieg über drei Kilometer bis Neels Gap, der für Aufregung sorgte. Aufregung deswegen, weil sich in Neels Gap ein Laden befand, genauer gesagt, befand sich der Laden in einem Lokal, das sich Walasi-Yi Inn nannte und in dem man Sandwiches und Eiscreme kaufen konnte. Um halb eins etwa vernahmen wir ein neues Geräusch, Autoverkehr, und wenige Minuten später tauchten wir aus dem Wald auf, und vor uns lag der U.S. Highway 19 beziehungsweise 129, eigentlich nur eine kleine Straße über einen hohen Paß mitten im bewaldeten Nirgendwo, obwohl sie zwei Nummern hat. Direkt gegenüber lag das Walasi-Yi Inn, ein beeindruckendes Gebäude aus Stein, das das Civilian Conservation Corps, eine Art Armee der Arbeitslosen, während der Zeit der Depression errichtet hatte und das heute eine Mischung aus Expeditionsausstatter, Lebensmittelgeschäft, Buchhandlung und Jugendherberge ist. Wir liefen über die Straße, rannten regelrecht hinüber und gingen hinein.
Es mag unglaubwürdig klingen, wenn ich sage, daß eine geteerte Straße, rauschender Autoverkehr und ein richtiges Haus nach fünf Tagen in der Waldeinsamkeit für Aufregung sorgen können und ungewohnt erscheinen, aber es war tatsächlich so. Allein durch eine Tür zu gehen, in einem Raum zu sein, umgeben von vier Wänden und einer Decke, war ein neues Gefühl. Und das Walasi-Yi Inn war wunderbar – ich weiß gar nicht, wo ich an- fangen soll. Es gab einen einzigen, kleinen Kühlschrank, der vollgestopft war mit frischen Sandwiches, Mineralwasser, Obstsaft und verderblicher Ware wie Käse und anderem. Katz und ich glotzten minutenlang dumpf und wie gebannt auf die Regale. Langsam fing ich an zu begreifen, daß die wichtigste Erfahrung, die man auf dem Appalachian Trail macht, die der Entbehrung ist, daß der ganze Sinn und Zweck der Unternehmung darin besteht, sich so weit von den Annehmlichkeiten des Alltags zu entfernen, daß die gewöhnlichsten Dinge, Schmelzkäse, eine schöne mit Kondenswasserperlen besetzte Dose Limonade, den Menschen mit Staunen und Dankbarkeit erfüllen. Es ist ein berauschendes Erlebnis, Cola zu trinken, als wäre es das erste Mal, und beim Anblick von Toastbrot an den Rand eines Orgasmus zu geraten. Ich finde, das macht die ganzen Strapazen vorher erst rich- tig lohnenswert.
Katz und ich kauften je zwei Eiersalat-Sandwiches, Kartoffelchips, Schokoriegel und Limonade und setzten uns hinters Haus an einen Picknicktisch, wo wir unsere Köstlichkeiten unter Ausrufen des Entzückens gierig schmatzend verspeisten, dann kehrten wir wieder zum Kühlschrank zurück, um noch ein bißchen mehr zu staunen. Das Walasi-Yi, stellte sich heraus, bietet echten Wanderern noch einigen Service – Waschmaschinen, Duschen, Handtuchverleih –, und wir machten kräftig Gebrauch von diesen Einrichtungen. Die Dusche war schon ziemlich betagt und nur ein dünnes Rinnsal, aber das Wasser war heiß, und ich muß sagen, ich habe noch nie eine Körperreinigung so sehr genossen wie diese. Mit tiefer Befriedigung beobachtete ich, wie der Schmutz von fünf Tagen meine Beine hinunterrann und im Abfluß versickerte, und ich stellte selbstverliebt fest, daß mein Körper merklich schlankere Konturen angenommen hatte. Wir wuschen zwei Maschinenladungen Wäsche, spülten unsere Becher, Teller, Töpfe und Pfannen, kauften verschiedene Postkarten, riefen zu Hause an und füllten unseren Proviant mit frischen und haltbaren Lebensmitteln aus dem Laden auf.
Das Walasi-Yi wurde von einem Engländer namens Justin und seiner amerikanischen Frau Peggy geführt, mit denen wir im Laufe des Nachmittags, während wir ständig rein- und rausgingen, ins Gespräch kamen. Peggy erzählte uns, sie hätten seit dem ersten Januar bereits tausend Wanderer zu Besuch gehabt, dabei stehe die eigentliche Wandersaison erst noch bevor. Die beiden waren ein freundliches Paar, und ich hatte den Eindruck, daß besonders Peggy ihre Zeit hauptsächlich damit verbrachte,
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