Picknick mit Bären
ich ihn eine ganze Weile nicht gesehen hatte. Als er endlich kam, wirkte er noch aufgelöster als sonst. In seinem Haar hingen kleine Zweige, sein Baumwollhemd wies einen neuen Riß auf, und auf seiner Stirn war ein getrocknetes Rinnsal Blut zu sehen. Er stellte seinen Rucksack ab und ließ sich erschöpft neben mir nieder, holte seine Wasserflasche und tat einen langen Zug, wischte sich über die Stirn, suchte seine Hand nach Blutspuren ab und sagte schließlich wie ganz nebenbei: »Wie bist du eigentlich um den Baum da unten herumgegangen?«
»Welchen Baum?«
»Den umgestürzten Baum da unten. Der quer über dem Felsgesims liegt.«
Ich überlegte eine Minute lang. »Ich kann mich nicht daran erinnern.«
»Daran kannst du dich nicht erinnern? Er blockiert den Weg, verdammt noch mal!«
Ich überlegte wieder, strengte mich noch mehr an und schüttelte mit dem Ausdruck leisen Bedauerns den Kopf. Man sah förmlich, wie kalte Wut in ihm aufstieg.
»Da unten. Nur ein paar hundert Meter von hier.« Er unterbrach sich, wartete auf ein Zeichen des Wiedererkennens meinerseits und konnte nicht fassen, daß es ausblieb. »Auf der einen Seite ein steiler Felsabhang, auf der anderen Seite undurchdringliches Gestrüpp, und in der Mitte ein gestürzter Baum. Das muß dir doch aufgefallen sein.«
»Wo genau soll das gewesen sein?« fragte ich, als wollte ich auf Zeit spielen.
Katz konnte seine maßlose Verärgerung kaum verbergen. »Da unten, verdammt noch mal. Auf der einen Seite der Abhang, auf der anderen Seite Sträucher, und in der Mitte eine riesige umgestürzte Eiche, die gerade mal so viel Platz zum Durchschlüpfen bot.« Er hielt eine Hand etwa 40 Zentimeter über den Boden. »Ich weiß nicht, welches Mittel du geschmissen hast, aber ich will auch was davon haben. Der Baum war zu hoch, um drüberzuklettern, und zu niedrig, um drunter durchzukriechen, und es gab keinen Weg drumherum. Ich habe eine halbe Stunde gebraucht, um an ihm vorbeizukommen, und ich habe mir dabei lauter Schrammen geholt. Wie kommt es, daß du dich nicht an den Baum erinnerst?«
»Vielleicht fällt es mir später wieder ein«, sagte ich hoffnungsvoll. Katz schüttelte traurig den Kopf. Ich habe nie herausgefunden, warum ihn meine gelegentliche geistige Abwesenheit eigentlich so aufregte. Dachte er, ich spielte extra den Begriffsstutzigen, um ihn zu ärgern, oder ich schlüge der Mühsal ein Schnippchen, indem ich sie unvernünftigerweise ignorierte? Auf jeden Fall nahm ich mir insgeheim vor, eine Zeitlang aufmerksam und ganz bei Bewußtsein zu sein, um Katz nicht aufzuregen. Zwei Stunden später erlebten wir einen jener Momente der Freude, die sich nur selten auf dem Trail einstellen. Wir überquerten gerade die hohe Wölbung eines Berges, namens High Top, als sich an einem Aussichtsfelsen aus Granit der Wald vor uns teilte und uns einen grandiosen Panoramablick bot – ganz plötzlich tat sich eine neue Welt hoher, kräftiger, vergleichsweise schroffer Berge auf, gehüllt in einen Dunstschleier und an den Rändern von trüben Wolken gestreift, verlockend und furchterregend zugleich.
Wir waren in den Smokies angekommen.
Tief unter uns, eingezwängt in einem schmalen Tal, lag der Fontana Lake, ein langer, fjordähnlicher, lindgrüner See. Am westlichen Ende, wo der Little Tennessee River in den See mündet, steht ein gigantischer 146 Meter hoher Staudamm, der in den 30er Jahren von der Tennessee Valley Authority errichtet wurde. Es ist der größte Staudamm in Nordamerika östlich des Mississippi und gilt unter Betonfetischisten als absolute Sehenswürdigkeit. Wir eilten darauf zu, den Weg hinunter, weil wir vermuteten, daß es dort ein Besucherzentrum gab, also auch eine Cafeteria und andere begrüßenswerte Möglichkeiten zur Kontaktaufnahme mit der zivilisierten Welt. Wenn schon nichts anderes, spekulierten wir aufgeregt, dann gab es dort wenigstens Automaten und Toiletten, wo man sich waschen, frisches Wasser holen und in einen Spiegel blicken konnte.
Es gab tatsächlich ein Besucherzentrum, aber es war geschlossen. Ein vergilbter Zettel an der Glastür besagte, daß es erst in vier Wochen wieder öffnete. Die Automaten waren leer, die Stecker herausgezogen, und zu unserem Bedauern waren sogar die Toiletten verschlossen. Katz entdeckte einen Wasserhahn an der Außenwand, aber das Wasser war abgestellt. Wir warfen uns gegenseitig einen langen, stoischen Leidensblick zu, seufzten kurz und marschierten weiter. Der Trail verläuft direkt oben
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