Picknick mit Bären
auf dem Damm über dem See. Die Berge vor uns, so schien es, erhoben sich nicht aus dem See, vielmehr richteten sie sich wie erschreckte Bestien dahinter auf. Es war auf den ersten Blick zu erkennen, daß sich uns hier eine ganz neue Pracht und damit auch neue Herausforderungen boten. Das gegenüberliegende Ufer markierte die südliche Grenze des Great Mountains National Park. Vor uns lag ein über 200.000 Hektar großes, dichtbewachsenes, bergiges Waldgebiet, eine Sieben-Tage-Tour, 114 extrem rauhe Kilometer, bevor wir wieder von Cheeseburgern, Cola, Toiletten und fließend Wasser träumen durften. Es wäre schön gewesen, wenigstens mit sauberen Händen und sauberem Gesicht loszugehen. Ich hatte es Katz noch nicht mitgeteilt, aber wir würden in den nächsten Tagen 16 Gipfel überschreiten, die über 1.800 Meter hoch waren, einschließlich Clingmans Dome, der mit 2.024 Meter höchsten Erhebung am Appalachian Trail (übrigens nur 12,5 Meter niedriger als der nahegelegene Mount Mitchell, der höchste Berg im Osten der Vereinigten Staaten). Ich war gespannt und aufgeregt – selbst Katz packte milde Begeisterung –, denn dazu gab es allen Grund.
Zunächst einmal hatten wir soeben einen neuen Bundesstaat betreten, Tennessee, unseren dritten, was einem immer das Gefühl gibt, eine Leistung vollbracht zu haben. Auf seiner gesamten Länge durch die Smokies verläuft der AT entlang der Grenze zwischen North Carolma und Tennessee. An so etwas hatte ich meinen Spaß, ich meine die Vorstellung, mit dem linken Bein in einem Bundesstaat und mit dem rechten in einem anderen zu stehen, oder mich für eine Ruhepause zwischen einem Baumstamm in Tennessee und einem Felsen in North Carolina entscheiden zu können, oder über die Grenze zu pinkeln, oder was es sonst noch an Möglichkeiten gab. Ich war gespannt darauf, was wir in diesen prächtigen, finsteren, sagenumwobenen Bergen alles Neues erleben und sehen würden – Riesensalamander und gewaltige Tulpenbäume und den berüchtigten Ölbaumpilz, der nachts ein grünliches phosphoreszierendes Licht abstrahlt, Foxfire genannt. Vielleicht würden wir sogar einen Bär sehen (natürlich vom Wind abgekehrt, aus sicherer Entfernung, und mich sollte er links liegenlassen, ausschließlich Interesse an Katz zeigen, wenn es schon einen von uns beiden treffen sollte). Aber vor allem gab es die Hoffnung, ja die Überzeugung, daß der Frühling nicht mehr weit war, daß wir uns ihm mit jedem Tag näherten und daß er hier in den Smokies endlich ausbrechen würde.
Die Smokies sind ein echtes Paradies. Wir betraten ein Gebiet, das die Botaniker gern als den »schönsten Mischwald der Welt« bezeichnen. Die Smokies beherbergen eine erstaunliche Pflanzenvielfalt – über 1.500 Arten von Wildpflanzen, 1.000 verschiedene Sträucher, 530 Moose und Flechten, 2.000 Pilze. Hier ist die Heimat von 130 Baumarten (in ganz Europa gibt es zum Beispiel nur 85).
Dieser verschwenderische Überfluß ist dem fruchtbaren, lehmigen Boden der geschützten Täler zu verdanken, die man »coves« nennt, dem feuchtwarmen Klima, das diesen bläulichen Dunst erzeugt, von dem die Smokies ihren Namen haben, und vor allem dem glücklichen Umstand, daß die Appalachen von Norden nach Süden verlaufen. Als sich während der letzten Eiszeit Gletscher und Eisdecken von der Arktis her ausbreiteten, wich die Flora der nördlichen Halbkugel nach Süden aus. In Europa stießen dabei unzählige Arten an die unüberwindliche Grenze der Alpen und anderer kleinerer Gebirge und starben aus. Im Osten Nordamerikas gab es kein solches Hindernis, und so bahnten sich Bäume und andere Pflanzen ihren Weg über Flüsse und an Gebirgsflanken entlang, bis sie das artverwandte Refugium der Smokies erreichten, wo sie seitdem geblieben sind. (Als sich das Eis wieder zurückzog, setzte auch ein langer Prozeß der allmählichen Rückkehr der im Norden einheimischen Bäume in ihre angestammten Gebiete ein. Manche von ihnen, Zeder und Rhododendron zum Beispiel, kehren erst jetzt heim – was uns nur zeigt, daß die Eisdecke, geologisch gesehen, erst gestern abgetaut ist.)
Pflanzenvielfalt bringt natürlich auch eine reiche Tierwelt mit sich. In den Smokies leben 67 verschiedene Säugetiere, 200 Vogelarten sowie 80 Reptilien- und Amphibienspezies – mehr als in anderen vergleichbar großen Gebieteninden gemäßigten Klimazonen der Erde. Die Smokies sind vor allem berühmt wegen ihrer Bären – Schätzungen gehen von 400 bis 600 Tieren aus –,
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