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Picknick mit Bären

Picknick mit Bären

Titel: Picknick mit Bären Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bill Bryson
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folgen. Ich versuchte ihn einzuholen, aber es gelang mir nicht. Er sah mich kein einziges Mal an, aber ich bin mir sicher, daß er mich bemerkt hatte. Man entwickelt ein Gespür für die Anwesenheit von anderen Menschen im Wald, und wenn man merkt, daß Leute in der Nähe sind, wartet man meist, bis sie einen eingeholt haben, nur um guten Tag zu sagen, ein paar Worte zu wechseln oder zu fragen, ob jemand den Wetterbericht gehört hat. Der Mann vor mir blieb nie stehen oder wartete, veränderte nie sein Schrittempo, schaute sich nie um. Am späten Nachmittag verschwand er aus meinem Blickfeld, und ich sah ihn nie wieder.
    Am Abend erzählte ich Katz von meinem Erlebnis.
    »Meine Güte«, murmelte er, »jetzt fängst du schon an zu halluzinieren.« Am nächsten Tag sah Katz den Mann. Diesmal blieb der Fremde hinter ihm, immer in der Nähe, ohne zu überholen. Es war höchst seltsam. Danach sahen wir ihn beide nicht wieder. Wir sahen überhaupt niemanden mehr.
    Das hatte zur Folge, daß wir jeden Abend die Schutzhütten ganz für uns allein hatten, was ein echter Luxus war. Man muß schon ziemlich tief gesunken sein, wenn man sich für ein überdachtes Holzpodest begeistern kann, das man für eine Nacht sein eigen nennen darf – aber so war es, wir waren begeistert. Die meisten Schutzhütten auf diesem Abschnitt des Trails sind neu und blitzsauber. Manche waren mit einem Besen ausgestattet, eine gemütliche, häusliche Note. Die Besen wurden sogar benutzt - wir benutzten sie jedenfalls und pfiffen ein Liedchen dabei –, ein Beweis dafür, daß der AT-Wanderer dankbar für alles ist, was ihm Bequemlichkeit verschafft, und verantwortungsbewußt damit umgeht. Jede Hütte hat ein Plumpsklo in der Nähe, außerdem eine gute Wasserquelle und einen Picknicktisch, so daß wir unsere Mahlzeiten in mehr oder weniger normaler Körperhaltung zubereiten konnten und dabei nicht auf einem feuchten Baumstamm hocken mußten. Das alles ist echter Luxus für die Wanderer auf dem Appalachian Trail. Am Abend des vierten Tages, als ich mich
    mit der trüben Aussicht konfrontiert sah, bald mein einziges Buch ausgelesen zu haben, und damit, daß mir für die Nächte danach nichts anderes übrigbleiben würde, als im Halbdunkel zu liegen und Katz’ Geschnarche zu lauschen, entdeckte ich plötzlich ein Buch von Graham Green, das ein früherer Gast liegengelassen hatte. Ich war hocherfreut und unendlich dankbar. Wenn es etwas gibt, das man auf dem AT lernt, dann ist es die Freude über kleine Dinge – etwas, das uns allen im Leben ganz gut tun würde.
    Ich war selig. Wir marschierten 25 Kilometer am Tag, nicht annähernd die 40 Kilometer, die man angeblich schaffen konnte, wie man uns gesagt hatte, aber eine ganz ansehnliche Strecke für unsere Verhältnisse. Ich fühlte mich beschwingt, körperlich fit, und zum ersten Mal seit Jahren sah mein Bauch nicht mehr wie eine Wampe aus. Ich war immer noch müde und steif am Ende eines langen Wandertages – das blieb auch weiterhin so –, aber ich hatte einen Punkt erreicht, an dem die Schmerzen und die Blasen ein so zentrales Merkmal meiner Existenz waren, daß ich sie nicht mehr bemerkte. Wenn man die bequeme, klinische Welt der Städte verläßt und in die Berge zieht, durchläuft man jedesmal Phasen der Transformation – ein sanfter Abstieg in die Verwahrlosung – und immer kommt es einem so vor, als sei es das erste Mal. Am Ende des ersten Tages fühlt man sich etwas schmutzig, trägt es aber mit Fassung; am zweiten Tag verstärkt sich das Gefühl bis zum Ekel; am dritten Tag kümmert es einen nicht mehr; am vierten hat man vergessen, daß es mal anders war. Auch das Hungergefühl folgt einem bestimmten Muster. Am ersten Tag quält einen der Hunger auf die abendlichen Nudeln; am zweiten Abend quält einen der Hunger, aber nicht schon wieder auf Nudeln; am dritten Tag kann man keine Nudeln mehr sehen, aber man weiß, daß man was essen muß; am vierten Tag hat man überhaupt keinen Appetit, aber man ißt trotzdem etwas, weil man das abends eben so tut. Ich weiß auch nicht warum, aber das Ganze ist irgendwie angenehm.
    Und dann geschieht etwas, das einem deutlich macht, wie gerne, wie wahnsinnig gern man wieder in die zivilisierte Welt zurückkehren möchte. An unserem sechsten Tag, nach einem langen Marsch durch einen ungewöhnlich dichten Wald, kamen wir gegen Abend an eine kleine grasbewachsene Lichtung auf einer Steilklippe mit einer sensationellen, ungehinderten Aussicht nach Norden und

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