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Picknick mit Bären

Picknick mit Bären

Titel: Picknick mit Bären Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bill Bryson
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Tragödie. Aber was für ein Glück, wenn man bedenkt, daß solche Krankheiten wenigstens artenspezifisch sind. Viel schlimmer wäre es, wenn es statt Kastanienbaumsterben oder Ulmensterben oder dem schwarzen Brenner bei Hartriegel eine allgemeine Plage für Bäume gäbe, die wahllos alle treffen und unaufhaltsam ganze Wälder vernichten würde. Es gibt diese Plage aber bereits. Sie heißt saurer Regen.
    Genug der Wissenschaft, ich denke, das reicht für ein Kapitel. Aber bitte behalten Sie den Gedanken im Hinterkopf, denn eines kann ich Ihnen versichern: Es gab nicht einen Tag in den Wäldern der Appalachen, an dem ich nicht Dankbarkeit empfand für das, was von ihnen noch vorhanden war.
    Der Wald, durch den Katz und ich jetzt stapften, war nicht zu vergleichen mit den Wäldern, die die Generation unserer Väter noch gekannt hatte, aber immerhin waren wir von Bäumen umgeben. Und es war ein herrliches Gefühl, wieder in unserer vertrauten Umgebung zu sein. Eigentlich war es in jeder Hinsicht der gleiche Wald, den wir in North Carolina verlassen hatten - die gleichen gefährlich schiefen Bäume, der gleiche schmale braune Pfad, die gleiche ausgedehnte Stille, nur unterbrochen von unserem leisen Ächzen und angestrengten Schnaufen, als wir Berge erklommen, die sich als mindestens so steil erwiesen wie die, die wir hinter uns gelassen hatten, wenn auch nicht ganz so hoch. Aber obwohl wir uns jetzt ein paar hundert Kilometer weiter nördlich befanden, war hier der Frühling merkwürdigerweise schon weiter fortgeschritten. Die Bäume, vorwiegend Eichen, standen in voller Blüte, hier und da sah man Büschel von Wildpflanzen aus der Schicht der Blätter des Vorjahres herausragen -Blutkraut, Wachslilien und Doppelsporn. Das Sonnenlicht sickerte durch die Zweige über uns und warf scheinwerferartig Lichtflecken auf den Weg, und in der Luft lag eine gewisse berauschende, charakteristisch frühlingshafte Leichtigkeit. Zuerst zogen wir unsere Jacken aus, dann folgten die Pullover. Die Welt war wieder ein freundlicher Ort.
    Am schönsten waren die Ausblicke rechts und links, herrlich und betörend. Der Blue Ridge sieht in seinem 650 Kilometer langen Verlauf durch Virginia im Grunde wie eine Rückenflosse aus.
    Er ist zwei bis drei Kilometer breit, hier und da mit tiefen, V-förmigen Durchlässen, den sogenannten Gaps versehen, ansonsten hält er sich gleichmäßig auf einer Höhe von knapp 1000 Metern. Im Westen erstreckte sich das breite, grüne Valley of Virginia, das bis zu den Allegheny Montains reicht, im Osten träger und ländlicher die Piedmontebene. Wenn wir uns hier auf einen Berggipfel schleppten und einen Aussichtsfelsen betraten, sahen wir keine haubenförmigen grünen Berge, die bis zum Horizont reichten, sondern blickten jedesmal aus luftiger Höhe hinab auf eine bewohnte Welt: sonnenbeschienene Farmen, kleine Dörfer, einzelne Waldstücke, Serpentinenstraßen, alles sehr idyllisch aus der Ferne. Selbst ein Interstate Highway mit seinen kleeblattförmigen Kreuzen und Querstraßen sah freundlich und besinnlich aus, wie die Illustrationen in den Kinderbüchern, die ich als kleiner Junge hatte und auf denen ein Amerika zu sehen war, das geschäftig und immer in Bewegung war, aber wiederum nicht allzu hektisch, um nicht seinen Reiz zu verlieren.
    Wir wanderten eine Woche lang und begegneten kaum Menschen. An einem Nachmittag lernte ich einen Mann kennen, der den Trail seit 25 Jahren abschnittsweise mit Auto und Fahrrad absolvierte. Jeden Morgen brachte er das Fahrrad mit dem Auto zehn, 15 Kilometer weit ans Ziel der anstehenden Tagesetappe, begab sich mit dem Wagen an den Ausgangspunkt, das Ziel des Vortages, wanderte die Strecke zwischen beiden ab und fuhr mit dem Fahrrad wieder zurück zum Parkplatz. Das machte er jedes Jahr im April zwei Wochen lang und hatte sich ausgerechnet, daß er noch ungefähr 20 weitere Jahre brauchen würde. An einem anderen Tag folgte ich einem älteren Mann, der bestimmt weit über Siebzig war. Er trug einen kleinen, altmodischen Tagesrucksack aus sandfarbenem Segeltuch und war mit einem unglaublichen Tempo unterwegs. Zwei- bis dreimal in der Stunde sah ich ihn 40, 50 Meter vor mir zwischen den Bäumen auftauchen und wieder verschwinden. Obwohl er sehr viel schneller ging als ich und anscheinend nie eine Pause einlegte, war er stets da. Immer wenn man 40 bis 50 Meter weit blicken konnte, sah man ihn bzw. nur seinen Rücken, der gleich wieder wegtauchte. Als würde man einem Geist

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