Picknick mit Bären
bewundern kann) und hatte vor, anschließend meine Suche nach dem AT fortzusetzen. Auf dem Weg zum Auto kam ich jedoch an der Stadtbücherei vorbei, ging spontan hinein und erkundigte mich, ob es irgendwelches Material über Centralia gäbe.
Es gab reichlich Material – drei dicke Aktenordner, prallvoll mit Zeitungsausschnitten, die meisten aus der Zeit von 1979 bis 1981, als Centralia für kurze Zeit landesweites Interesse hervorrief, besonders nachdem der kleine Junge, ein gewisser Todd Dombowski, im Garten seiner Oma beinahe vom Erdboden verschluckt worden wäre.
Darüber hinaus gab es noch ein schmales gebundenes Bändchen, eine Geschichte Centralias, das, aus heutiger Sicht nicht ohne Pikanterie, aus Anlaß der Hundertjahrfeier der Stadt kurz vor Ausbruch des Feuers in Auftrag gegeben worden war. Es war reich bebildert, lauter Fotos, die eine Stadt zeigten, in der lebhaftes Treiben auf den Straßen herrschte, nicht viel anders als das, was sich vor den Toren der Bücherei abspielte, mit dem Unterschied, daß alles etwas über 30 Jahre zurücklag. Ich hatte vergessen, wie entrückt die 60er Jahre bereits waren. Die Männer auf den Fotos trugen Hüte, die Frauen und Mädchen weite, ausgestellte Röcke. Sie wirkten alle unbekümmert, denn natürlich ahnte niemand, daß ihre hübsche, unbekannte kleine Stadt dem Untergang geweiht war. Es fiel mir schwer, die Lebendigkeit, die auf diesen Fotos zum Ausdruck kam, mit dem öden Ort, den ich gerade verlassen hatte, in Verbindung zu bringen.
Als ich alles wieder in den Aktenordner einlegte, fiel ein Zeitungsausschnitt zu Boden, ein Artikel aus Newsweek. Ein kurzer Absatz am Ende des Textes war unterstrichen und am Rand mit drei Ausrufezeichen versehen. Ein Mitarbeiter der Brandbekämpfung wurde mit den Worten zitiert, wenn das Feuer gleichmäßig weiterschwele, reiche die Kohle unter Centralia noch für 1.000 Jahre.
Ein paar Kilometer von Centralia entfernt liegt ein weiterer, eindrucksvoller Ort der Verwüstung, von dem ich zufällig erfahren hatte und den ich unbedingt aufsuchen wollte – ein Berghang im Lehigh Valley, der durch die Hinterlassenschaften einer Zinkhütte so gründlich verschmutzt worden war, daß dort kein Grashalm mehr wuchs. John Connolly hatte mir von dem Berg erzählt und gesagt, er befände sich unweit von Palmerton, und so begab ich mich am nächsten Tag dorthin. Palmerton war eine ziemlich große Stadt, schmutzig, mit viel Industrie, aber nicht ohne gewissen Reiz – ein paar städtische Bauten der Jahrhundertwende, die dem Ort etwas Würdevolles verliehen, ein behäbiger Platz im Zentrum, und ein Einkaufsviertel, das eindeutig krisengeschüttelt war, aber den Widrigkeiten mutig trotzte. Überall im Hintergrund dominierten große Fabrikanlagen, die wie Gefängnisse aussahen und anscheinend alle geschlossen waren. An einem Ende der Stadt fand ich, weswegen ich hergekommen war – eine steile, breite kahle Erhebung, ungefähr 450 Meter hoch und einige Kilometer lang, auf der keine Vegetation zu erkennen war. Neben der Straße war ein Parkplatz, ein paar hundert Meter davon entfernt eine Fabrik. Ich bog auf den Parkplatz ein, stieg aus und staunte – es war ein überwältigender Anblick.
Im selben Moment trat ein dicker uniformierter Mann aus einem Wachhäuschen und watschelte mit mürrischer Miene diensteifrig auf mich zu.
»Was haben Sie hier zu suchen?« schnauzte er mich an.
»Wie bitte?« erwiderte ich betroffen, und dann: »Ich sehe mir den Berg an.«
»Das dürfen Sie nicht.«
»Man darf sich diesen Berg nicht ansehen?«
»Jedenfalls nicht hier. Das ist Privatgelände.«
»Entschuldigung. Das habe ich nicht gewußt.«
»Es ist trotzdem Privatgelände, wie auf dem Schild da zu lesen ist.« Er wies auf einen Pfosten, an dem überhaupt kein Schild hing, und war für einen Moment ganz verdattert. »Ist trotzdem Privatgelände«, fügte er hinzu.
»Entschuldigung. Das habe ich nicht gewußt«, wiederholte ich, noch ohne wirklich begriffen zu haben, wie ernst der Mann seinen Job nahm. Ich bestaunte weiterhin den Berg. »Ist das nicht ein sagenhafter Anblick?« sagte ich.
»Was?«
»Der Berg. Nicht ein einziger Grashalm ist zu erkennen.«
»Kann ich nichts zu sagen. Ich werde nicht dafür bezahlt, mir Berge anzuschauen.«
»Sollten Sie ab und zu mal tun. Sie wären erstaunt, was Sie da zu sehen bekämen. Das da drüben ist dann wohl die Zinkfabrik, oder?« sagte ich und deutete mit einem Kopfnicken auf den Gebäudekomplex
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