Pilger Des Hasses
versunken. »Aber, Bruder, es gibt einen weiteren Dolch - wenigstens einen. Mit Scheide und allem, was dazugehört, und recht lang. Ich weiß es, weil ich gestern bei der Messe gegen ihn gedrückt wurde. Ihr wißt ja, ich muß meine Krücken sehr fest halten, wenn ich lange stehen will, und der Mann hatte einen großen Leinensack am Gürtel, den er gegen meine Hand und meinen Arm preßte, als wir im Gedränge standen. Ich konnte den Umriß genau spüren, den Griff und alles. Ich weiß es genau! Aber Ihr habt ihn nicht gefunden.«
»Und wer war es?« fragte Cadfael, der immer noch vorsichtig das verhärtete Fleisch bearbeitete. »Wer trug diese Waffe bei der Messe?«
»Es war der große Händler mit dem guten Kleid, das aus Hochlandwolle gewirkt ist. Ich habe gelernt, wie man die Tucharten unterscheidet. Der Mann heißt Simeon Poer. Aber Ihr habt das Messer nicht gefunden. Vielleicht hat er es wie Matthew dem Bruder Pförtner übergeben.«
»Vielleicht«, sagte Cadfael. »Wann habt Ihr das Messer bemerkt? Gestern? Aber was war heute? Stand er wieder in Eurer Nähe?«
»Nein, heute nicht.«
Nein, heute hatte er gelassen das Schauspiel beobachtet und sich bereitgehalten, als erster seinen Beutel vorzuzeigen, um zufrieden zu lächeln, als der Abt die Entwaffnung eines anderen Mannes befahl. Er hatte gewiß keinen Dolch bei sich gehabt, denn er hatte ihn in der Zwischenzeit versteckt. Es gab in diesen Mauern genug Verstecke für einen Dolch und einen kleinen Haufen gestohlener Wertgegenstände. Die Suche war im Grunde vergebens, solange man nicht bereit war, die Tore geschlossen und die Gäste gefangen zu halten, bis jedes Fleckchen des Gartens umgegraben und jedes Bett und jede Bank in Dormitorium und Gästehaus zerlegt waren. Die Sünder sind den Gerechten immer eine Nasenlänge voraus.
»Es war nicht recht, daß Matthew seinen Dolch abgeben mußte«, sagte Rhun, »während ein anderer Mann seinen noch bei sich trug. Und Ciaran, der sich kaum bewegen kann, vermißt nun seinen Ring. Er wird bis morgen das Dormitorium nicht verlassen, er ist ganz krank wegen des Verlustes.«
Ja, so war es wohl. Und wie seltsam, dachte Cadfael, daß ein Mann, der sich als todgeweiht erklärt hatte, vor Furcht schwitzte. Was sollte er noch fürchten? Die Furcht sollte vor allem anderen sterben.
Aber die Menschen sind seltsam, dachte er, indem er sich besann. Und ein gesegneter, stiller Tod in Aberdaron, gut vorbereitet und umgeben von den Gebeten und dem Mitgefühl gleichgesinnter Gläubiger, war wohl etwas ganz anderes als ein gewaltsamer Tod durch einen Fremden oder einen Wegelagerer irgendwo in der Wildnis.
Aber dieser Simeon Poer - angenommen, er hatte gestern einen Dolch; dann trug er ihn auch heute noch bei sich, im Gedränge der Messe. Was hatte er so rasch damit getan, bevor Ciaran den Verlust entdeckte? Und wie konnte er wissen, daß er sich der Waffe so schnell entledigen mußte? Wer außer dem Dieb selbst wußte von dieser Notwendigkeit?
»Zerbrecht Euch nicht weiter den Kopf«, sagte Cadfael, während er das schöne zarte Gesicht des Jungen betrachtete.
»Weder um Matthew noch um Ciaran. Denkt nur an morgen, wenn Ihr Euch der Heiligen nähern werdet. Sie und Gott sehen alles, und man muß ihnen nicht eigens sagen, welche Not man leidet. Ihr braucht nur still auf das zu warten, was kommen wird.
Denn was auch immer geschieht, es wird nicht willkürlich sein.
Habt Ihr gestern abend Eure Medizin genommen?«
Rhun riß verblüfft die hellen, strahlenden Augen auf. Sie sahen aus wie Sonnenlicht und Eis, blendend hell. »Nein. Es ging mir gestern gut, und ich wollte mich bedanken. Nicht, daß ich nicht schätze, was Ihr für mich tut. Ich wünschte nur, ich könnte auch etwas geben. Und ich habe gut geschlafen, ich habe wirklich gut geschlafen...«
»Dann macht es heute abend genauso«, sagte Cadfael sanft und schob einen Arm um den Jungen, um ihm aufzuhelfen.
»Sprecht Eure Gebete, überlegt Euch im Stillen, was Ihr tun müßt, tut es und schlaft. Kein Mensch, kein König und kein Kaiser, kann mehr für Euch tun als Ihr selbst.«
Ciaran verließ das Gästehaus an diesem Tag nicht mehr. Nur Matthew ließ sich blicken und erschien, ganz im Gegensatz zu allen früheren Auftritten, ohne seinen Gefährten in der Tür des Gästehauses. Er stand oben auf der steinernen Treppe, die in den großen Hof hinunterführte, hatte die Hände in den Türrahmen gestemmt und den Kopf zurückgeworfen, um tief die Abendluft einzuatmen. Das
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