Pilger des Zorns
Metamorphose wie diese hatte er noch nie gesehen.
Es sei denn bei einem Menschen, der dabei war, den Verstand zu verlieren.
Viel Zeit, hierüber nachzugrübeln, hatte er jedoch nicht gehabt. Die Katastrophe hatte bereits ihren Lauf genommen. Emicho, der mit griesgrämiger Miene in die Fluten gestiert hatte, war aufgeschreckt, hatte sich von der Reling gelöst und umgedreht. Und war, wie Bruder Hilpert erstaunt registrierte, mit versteinerter Miene stehen geblieben. Kein Teil seines Körpers, der nicht wie gelähmt gewirkt hatte, die Froschaugen mit inbegriffen.
Ganz anders Rosalinde, die den Dolch zuerst auf Augenhöhe, dann aber, Emicho nunmehr ganz nahe, mit triumphierendem Blick in die Höhe gereckt hatte. Die Klinge hatte sich im Sonnenlicht gespiegelt, und das Keuchen, Hecheln, Zischen und Geifern, das aus dem halb geöffneten Mund des Mädchens drang, hatte Bruder Hilpert erschaudern lassen. Mehr noch, er war wie gelähmt, von Geistesgegenwart keine Spur. Spätestens jetzt hätte er dazwischengehen sollen, ach was, müssen. Doch der Impuls war ausgeblieben. Doch damit nicht genug. In dem Maße, wie der völlig konsternierte Badstuber vor der wild gewordenen Furie zurückgewichen war, hatte sich sogar so etwas wie Gleichgültigkeit in ihm breitgemacht. Bruder Hilpert hatte sich selbst nicht mehr gekannt. Da war diese sich wie rasend gebärdende Erinnye, und er hatte tatenlos zugeschaut.
»Zu Hilfe! Mordio!« Erst der lang gezogene Schrei des Badstubers, der zu allem Unglück über ein Tau stolperte, rüttelte Bruder Hilpert wieder wach. Gerade rechtzeitig, um Rosalinde in den Arm zu fallen, ihr den Dolch zu entwinden und sie mit Richwyns Hilfe zu überwältigen. Dies allerdings erst nach verzweifelter Gegenwehr, bei der sie sich gebärdete, als habe sie den Verstand verloren.
Nach getaner Arbeit, bei der er etliche Kratzer abbekommen hatte, wandte sich Bruder Hilpert schwer atmend ab und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Nicht viel hätte gefehlt, und es wäre zum Äußersten gekommen. In einem Punkt war er sich jedoch sicher: Die Messerattacke war kein Zufall gewesen. Dafür kannte er sich in den Abgründen der menschlichen Seele einfach zu gut aus. Kein Zweifel, weder war Rosalinde verrückt, noch war der Badstuber ein Unbekannter für sie.
Wenn aber schon kein Zufall, was dann?
»Ruhig, Röschen, ruhig!«, redete der Spielmann auf sie ein, schloss Rosalinde in die Arme und streichelte ihr sanft übers Haar. Dies alles zum Ärger des Schiffsjungen, der sie nicht aus den Augen ließ. Bruder Hilpert schüttelte missmutig den Kopf. Angesichts dessen, was hätte passieren können, kam ihm Richwyns Reaktion reichlich deplatziert vor. Und so wandte er sich ab, um nach Emicho zu sehen. Der war gerade dabei, sich aufzurappeln, und zu Bruder Hilperts Verblüffung blieb die erwartete Schimpfkanonade aus. Aus dem Choleriker mit den Froschaugen war ein Häuflein Elend geworden, dem das Ganze offenbar äußerst peinlich war. Der Schweiß triefte nur so von der Stirn und der Speichel aus seinem Mund. Bruder Hilpert hielt inne. Da war etwas, das ihn zögern ließ. Trotz des Vorsatzes, sich des Mannes anzunehmen. Eine unüberbrückbare Distanz, wenn nicht gar Phobie. Eigentlich hätte er sich dafür schämen müssen. Doch dem war nicht so. Von Reue oder dergleichen keine Spur. Mehr noch, er konnte diese aufgeblasene Kröte nicht ausstehen. Daran würde sich auch so schnell nichts ändern.
In der Zwischenzeit hatte der Schiffsjunge seinen Platz auf dem Achterdeck verlassen und war neben Bruder Hilpert getreten. Trotz der Anspannung, unter der er immer noch stand, konnte sich Letzterer ein Lächeln nicht verkneifen. Der Blick, mit dem der Jüngling Richwyn bedachte, sprach Bände. Und das trotz des Bemühens, seine Eifersucht zu kaschieren.
Bevor sie jedoch zum Ausbruch kam, geschah etwas, mit dem niemand gerechnet hatte. »Da!«, rief der Schiffsjunge konsterniert, verpasste seinem Nebenmann einen Rippenstoß und rannte zum Bug. In Gedanken immer noch bei Richwyn, wandte Bruder Hilpert den Blick nach vorn.
Und blieb wie angewurzelt stehen.
Noch war die Kette, mit der die ›Charon‹ zum Beidrehen gezwungen werden sollte, nicht vollständig gespannt. Bis dahin würde es jedoch nicht mehr lange dauern. Bruder Hilperts Atem ging rascher, und sein Blick suchte denjenigen des Kapitäns. Eine Kollision war nahezu unvermeidlich, die Kette nur noch einen Steinwurf weit entfernt. Jeder andere hätte jetzt beigedreht.
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