Pilger des Zorns
Dunkelheit, Enge und stickige Luft. Lange würde er es hier drunten nicht mehr aushalten. Das wusste er nur zu gut.
Mit dem Anschwellen seines Knöchels, bei dessen Berührung er Höllenqualen litt, ließ sein Gefühl für Zeit und Raum immer mehr nach. Abgemagert bis auf die Haut, ermattet und zusehends skeptisch, was die Durchführbarkeit seines Planes betraf, stützte er das Kinn auf die Knie und starrte an die gegenüberliegende Wand. Eingepfercht wie ein Tier – und das noch mindestens einen Tag. Ein Krug Wasser, ein Laib Brot, Schafskäse. Kaum Schlaf, dafür aber jede Menge Gefahr. Und das Gefühl, am Ende vielleicht den Kürzeren zu ziehen. Marek Husine č rang nach Luft und warf einen Blick zur Decke, über der sich die Kapitänskajüte befand. Eingesperrt wie ein Tier, schoss es ihm erneut durch den Sinn, während sein Kopf langsam auf den Brustkorb sank. Ein Wunder, dass er alldem überhaupt gewachsen war.
Die Frage war allerdings, wie lange noch.
Und ob die Gefährten, auf denen all seine Hoffnungen ruhten, rechtzeitig zur Stelle sein würden.
Fast wie von selbst kehrten die Gedanken des Passagiers im Laderaum der ›Charon‹ in die jüngste Vergangenheit zurück. Auf einmal, fast zwangsläufig, war alles genauso wie vor gut einem Jahr. Wie damals, als er im Verlies des Dominikanerklosters zu Konstanz gesessen war. Bei Tage gefesselt und nachts in einen Verschlag gesperrt. Seite an Seite mit seinem Mentor, dem todgeweihten Jan Hus. Dass ihm, jedoch nicht dem verehrten Meister, am Ende die Flucht gelungen war, hatte Marek Husine č bis zum heutigen Tage nicht verwunden. Und das, obwohl er seinen Häschern einige Monate später ins Netz gehen sollte.
Und in die Hände eines gewissen Malachias fiel.
Der Mann, welcher ihn in Konstanz verhört und den Meister auf dem Gewissen hatte. Der Mann, welcher ihn im Dominikanerkloster zu Würzburg nach allen Regeln der Kunst malträtiert und ein Wrack aus ihm gemacht hatte.
Der Mann, der sich an Bord dieses Schiffes befand.
Und dessen Tage auf Erden sich ihrem Ende zuneigten. Unweigerlich, mit tödlicher Präzision. So wahr Gott ihm, Marek Husine č , zur Seite stehen würde.
NACH SONNENUNTERGANG
Worin der für tot gehaltene Isaak Rubinstein das Bewusstsein wiedererlangt und das Unheil an Bord der ›CHARON‹ seinen Lauf zu nehmen beginnt.
»Was hast du mit meinem Wams gemacht, Rumtreiber? Mach ’ s Maul auf, Abschaum, sonst schlag ich dir die Zähne ein!«
Als er die Augen aufschlug, war es stockfinstere Nacht. Der Mond stand am Himmel, und das Auf und Ab der ›Charon‹, welche die nachtschwarzen Wogen durchpflügte, machte ihn glauben, auf dem Weg ins Jenseits zu sein.
»Raus mit der Sprache, wo hast du es versteckt?«
Doch war dem nicht so. Die Stimme, die sich ihm für alle Zeiten eingeprägt hatte, lieferte den Beweis. Er war nicht tot. Nicht im Jenseits und auch nicht auf dem Weg dorthin. Wenn überhaupt, dann in der Hölle. Denn wo sonst, wenn nicht dort, würde Malachias sein Unwesen treiben?
»Auseinander, ihr zwei – sonst werfe ich euch eigenhändig über Bord!«
Eine zweite Stimme, wenngleich mit fremdem Akzent. Rau, scharf, bestimmend. Immer noch nicht ganz bei Bewusstsein, machte Isaak Anstalten, den Kopf zu heben. Und wagte keinen weiteren Versuch. Der Schmerz, der seinen Schädel in zwei Hälften zu spalten schien, ließ ihm keine Wahl. Er war so durchdringend, so qualvoll, dass er Gefahr lief, das Bewusstsein zu verlieren.
Während er dahindämmerte, weder ohnmächtig noch richtig wach, kehrte plötzlich wieder Ruhe ein. Die Stimme, die er aus Tausenden anderer hätte heraushören können, war verstummt. Genauso plötzlich, wie sie ihn aus der Bewusstlosigkeit gerissen hatte. Noch ein paar Worte seitens des Mannes mit dem fremdländischen Zungenschlag. Harsche Worte, voll beißender Ironie. Dann war das, was sich nach einem handfesten Streit angehört hatte, beendet.
Die Qualen, unter denen Isaak litt, waren es hingegen nicht. Der 24-jährige Bankier stöhnte leise auf. Blessuren am ganzen Körper. Vor allem im Gesicht. Aufgeplatzte Lippen, geschwollene Augen und eine gebrochene Nase. Mehr, als ein Mensch ertragen konnte. »Heile uns, Ewiger, dann sind wir geheilt«, flüsterte Isaak wie in Trance. »Hilf uns, dann ist uns geholfen, denn du bist unser Ruhm, und bringe vollkommene und anhaltende Heilung …«
Isaak brach abrupt ab. Bei dem Mann, der sich über ihn beugte, handelte es sich um einen Mönch. Graue Tonsur,
Weitere Kostenlose Bücher