Pilgerspuren: Palzkis siebter Fall (German Edition)
gestaltet. Nönn verstand es, auch das kleinste
scheinbar unwichtigste Detail in einen Zusammenhang zu bringen, der die Vergangenheit
lebendig werden ließ.
Wenn mir
jemand sagen würde, dass sich während der Arbeiten schwerwiegende, durch Jahrhunderte
entstandene Schäden im Mauerwerk der Pfeiler, Wände und Gewölbe zeigten, die durch
Einspritzung von Mörtelmasse behoben werden konnten, würde ich nur mit den Schultern
zucken. Nönn verpackte alles in eine spannende Rahmenhandlung und zitierte auch
Personen der damaligen Zeitgeschichte. Dazu gab es auf einer Leinwand hinter seinem
Rücken eine hervorragende Diashow mit teils atemberaubenden Aufnahmen. So einen
Geschichtslehrer hätte ich mir in meiner Schulzeit gewünscht.
Schneller
als vermutet gab es eine Pause. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass bereits
über eine Stunde vergangen war. Die Pause war heikel, weil fast alle Besucher gleichzeitig
den Spiegelsaal verließen. Unauffällig postierten sich neben der Bühne mehrere Beamte,
die darauf achteten, dass sich kein Unbefugter dort zu schaffen machte.
Nichts passierte,
und auch die zweite Halbzeit verging wie im Flug. Der Schlussapplaus war beinahe
endlos. Kein Schuss war gefallen, kein Messer war geworfen worden und keine Bombe
war explodiert. Während die meisten Zuschauer innerhalb weniger Minuten das Gebäude
verlassen hatten, blieben etwa 50 Personen übrig. Neben mehreren Zivilbeamten, die
sich nicht als Personal verkleidet hatten, waren es vor allem sogenannte VIPs des
Congressforums. Diese äußerst wichtigen Personen waren im Vorfeld vom Veranstalter
zu einem Late-Night-Dinner im Culinarium eingeladen worden. Das Culinarium war das
congressforumeigene Restaurant und befand sich direkt zwischen den beiden Sälen.
Da alle geladenen Gäste bekannt und registriert waren, wurde, wie ich Juttas Einsatzplan
entnommen hatte, die Anzahl der Zivilbeamten reduziert. Eine Handvoll würde, als
Personal getarnt, im Restaurant und Foyer verbleiben, der Rest das Gebäude von außen
sichern.
Das Culinarium,
das laut Jutta bis vor einem guten Jahr noch unter ›Blaue Ente‹ firmiert hatte,
war ein gemütlich eingerichtetes Restaurant. Wände und Decke waren in intensiven
Blautönen gehalten. Mehrere schwarze Säulen und eine Lichtkuppel sorgten für Behaglichkeit.
Da sich
die Frankenthaler Prominenz an dem Tisch von Nönn und Fratelli drängte, setzte ich
mich mit Jutta und Gerhard etwas abseits.
Jutta reichte
mir verschwörerisch lächelnd die extra für den Abend kreierte Karte. Mir kam es
gleich verdächtig vor, irgendetwas stimmte mit ihrem Lächeln nicht.
Nachdem
ich die Karte überflogen hatte, wusste ich warum. Wegen der Osterzeit gab es neben
Fisch nur vegetarische Kost. Das konnte ich verstehen und akzeptieren. Mich irritierte
vielmehr die Überschrift, die über sämtlichen fischlosen Gerichten stand. ›Frankenthaler
Rosenkohltage – Alle Gerichte mit obligatorischen Rosenkohl-Variationen‹.
Ich hatte
die Wahl zwischen Pest und Cholera. Während meine Kollegen eifrig auswählten und
über die besten Rosenkohlzubereitungen diskutierten, bestellte ich ein gemischtes
Eis und ein Pils. Die etwas irritiert dreinschauende Bedienung klärte ich über meine
schlimme Allergie gegen Gemüse und Fisch auf.
Dietmar
Becker hatte nur kurz in das Restaurant reingeschaut und sich dann verabschiedet.
Er wollte mit dem Zug heimfahren und unterwegs den Abend in Ruhe überdenken. Auch
wenn es kein Attentat gegeben hatte, würde er diese geniale Location, wie er sich
ausdrückte, als Tatort in seinem Roman nutzen.
Nachdem
ich mein zweites Eis gegessen hatte, wollte ich rein interessenhalber nachschauen,
wie Fratelli und Nönn sich um den Rosenkohl gedrückt hatten. Damit es nicht zu offensichtlich
aussah, schlenderte ich möglichst unauffällig an deren Tisch vorbei. Fratelli entdeckte
mich trotzdem, hob grinsend einen leeren Eisbecher in die Höhe und rief »Alles klar,
Herr Palzki? Das war bereits mein vierter. Kollege Nönn liegt zurück. Er hat erst
drei gepackt.«
Na denn.
Beruhigt ging ich zu meinen Kollegen zurück und bestellte den nächsten Eisbecher.
Irgendwann
verabschiedete sich Joachim Wolf.
»Und Sie
melden sich ganz bestimmt, Herr Palzki, wenn ich Sie unterstützen kann?«
»Keine Bange«,
antwortete ich. »Herr Becker ist schließlich bereits gegangen. Es kann heute Abend
also rein statistisch gesehen nichts mehr passieren. Und über die Feiertage lassen
es auch die meisten Ganoven ruhiger
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